Der Marcus-Mythos und die Benz-Legende

_______________________________________


Inmitten zahlloser Boutiquen und Filialen großer Modemarken in Wiens wohl bekanntester Einkaufsmeile, der Mariahilferstraße, befindet sich unübersehbar das Technische Museum Wien. In einem der Säle steht ein Automobil, um das sich zahllose Mythen ranken.

Der Erfinder des Gefährts heißt Siegfried Marcus. Er sei, so heißt es immer wieder, der eigentliche Erfinder des ersten Automobils. Ein Siegfried-Marcus-Verein in Wien hat erst vor wenigen Tagen verkündet, dass man nun endgültig Beweise vorlegen werde, dass nicht Daimler und Benz die Pioniere des rollenden Fortschritts seien, sondern Siegfried Marcus.
Das Technische Museum in Wien ist da zurückhaltender. Seit 1915 ist es der Hüter des wichtigsten Exponates der österreichischen Automobilgeschichte. Der zweite Marcus-Wagen wird seit 1918 im Technischen Museum Wien dem Publikum zugänglich gemacht. Der Wagen ist das wohl älteste fahrbereite Auto der Welt.

Wie entstand aber nun der Mythos um das Marcus-Mobil. Die Geschichte ist in der Tat widersprüchlich. Es geht um die Jahre 1875 und 1888. Im Marcus-Verein in Wien versicherte man aspekt, dass die Beweise demnächst veröffentlicht würden, wonach der erste Marcus-Wagen 1875 fahrbereit gemeldet wurde. Es soll aber einen Schreibfehler oder eine bewusste Fälschung gegeben haben, so dass erst die Anmeldung des zweiten Marcus-Wagens 1888 dokumentiert wurde.
Der Erfinder war Jude und damit nach Meinung des Marcus-Vereins in den 1920er und 1930er Jahren untragbar. Die Nazis wollten keinen Juden als Begründer des deutschen Automobilbaus. Deshalb sei die nachträgliche Änderung Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgt.
Automobilgeschichtlich wäre das, sollten sich die Beweise als belastbar erweisen, ein Schock. Unzählige Bücher, Filme und Datenbanken müssten erneuert werden. Eine nationale Katastrophe wäre es aber weder für die Österreicher, noch für die Deutschen.
Siegfried Marcus war nämlich Deutscher. Geboren am 18. September 1831 in Malchin bei Schwerin (Mecklenburg), war er ein in Fachkreisen anerkannter Elektrotechniker und Mechaniker. Marcus war der erste, der ein Automobil mit einem Benzinmotor antrieb und die magnet-elektrische Zündung für Kraftfahrzeuge anwendete.
Den zweiten Marcus-Wagen ließ er bei der Firma Märky, Bromovsky & Schulz – eine der bedeutendsten Maschinenfabriken der Österreichisch-Ungarschen Monarchie – in Adamsthal nach eigenen Zeichnungen fertigen. Um die exakte Datierung des Originals – zwischen 1875 und 1888/89 – geht die eingangs erwähnte Diskussion. Die historischen Unterlagen belegen die Fertigstellung des Motors im Jahr 1888, nicht aber wohl der Pläne dazu.
1870 baute Marcus sein erstes mit einem Benzinmotor angetriebenes Straßenfahrzeug. Das war eigentlich nichts anderes, als ein motorisierter Handwagen. Der Motor war ein verdichtungsloser, direkt wirkender Zweitakt-Motor, der allerdings mit den heutigen Zweitakt-Motoren nur den Namen gemeinsam hat. Für das Benzin-Luft-Gemisch sorgte ein Oberflächenvergaser, den Marcus in dieser Form 1866 patentieren ließ. An sich waren Oberflächenvergaser nicht neu, Marcus selbst sprach in seinen Patentschriften daher von Verbesserungen. Die Zündung war eine Elektro-Magnetzündung. Der Erfinder hatte in den 1860er Jahren bereits mehrere solche Zünder für verschiedene militärische und zivile Zwecke entwickelt und patentieren lassen. In Zeitungsberichten damals führte er mit diesem Wagen, dem wesentliche Bestandteile eines Automobils wie Bremsen, Lenkung, Kupplung und dergleichen fehlten, Versuchsfahrten in der näheren Umgebung seiner Werkstätte durch.
Ohne dieses Fahrzeug und seine Datierung auf 1875, und somit vor Benz und Daimler, wäre Marcus heute wohl kaum bekannt. Stein des Anstoßes ist der zweite Marcus-Wagen. Diese Konstruktion hatte bereits alle Bestandteile eines Kraftfahrzeuges. 1898 präsentierte sich das Marcus-Mobil erstmalig auf der Kaiser Franz-Joseph-Jubiläumsausstellung einem breiten Publikum. Der einzylindrige 1,5-Liter-Viertaktmotor leistete 0,75 PS und brachte das Gefährt auf ebener, befestigter Fahrbahn auf eine Geschwindigkeit von fünf bis acht Stundenkilometern. Trotz der nur wenig über Fußgängertempo liegenden Spitzenwerte, verursachte das Mobil erhebliche Aufregung. Einzelne Damen, so vermeldeten Wiener Zeitungen, sollen sogar in Ohnmacht gefallen sein.
1950 wurde der Wagen komplett überholt. Seither ist er mehrmals vor Publikum gefahren. Er steht als das älteste in fahrfähigem Zustand erhaltene Automobil unter Denkmalschutz. Im Jahr 2006 hat das Technische Museum Wien mit Hilfe mehrerer Sponsoren, darunter die tschechische Firma ADAST, Nachfolgerin des einstigen Herstellers Märky, Bromovsky & Schulz, einen originalgetreuen, betriebsfähigen Nachbau angefertigt. Dieser nimmt mehrmals jährlich an Veranstaltungen wie Oldtimermessen und -treffen teil.
Um zu dem Urheberstreit zurückzukommen: Dank eigenhändiger Vermerke auf zwei Fotografien kann das Ursprungsgefährt auf 1870 datiert werden. Dieser so genannte erste Marcus-Wagen ist das erste mit Benzin betriebene Straßenfahrzeug, über das es authentische Geschichtsquellen gibt. Weder Wagen noch Motor sind erhalten geblieben. Jedoch gibt es einige originalgetreue Nachbauten, wie im Heimatmuseum von Marcus’ Geburtsstadt Malchin. Der älteste steht in der Siegfried-Marcus-Berufsschule in Wien, dessen Motor bis heute tuckert, ganz gleich, ob nun als erster oder zweiter in der Automobilgeschichte.

, , , ,