Die stille Revolution der Wirtschaft

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Die Meldung kam ganz schlicht daher und bedeutet doch einen Umbruch, der einer Revolution gleichkommt. Was visionäre Wirtschaftsexperten schon seit einiger Zeit prophezeien, hat sich der Politik bemächtigt. Der Bundestag bildete quer durch alle Parteien eine Kommission, die einen neuen Indikator neben dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Maß für den Erfolg einer Volkswirtschaft ermitteln soll.

Es geht also um nicht mehr oder weniger als das Maß des Wirtschaftserfolges eines Staates als Vergleichskriterium zu anderen Ländern. Das BIP, Synonym für Wachstum, ist dabei nur eines der Kriterien.
Wachstum allein, eigentlich seit Beginn des Zeitalters der Industrialisierung der Götze jeder Entwicklung, hat abgewirtschaftet. Stattdessen stehen die effizientere Nutzung des Vorhandenen und die Frage im Vordergrund, ob man im Interesse des Wachsens Bedürfnisse künstlich erzeugen muss, wenn sie gar nicht vorhanden sind. Allein diese Erkenntnis rüttelt an den Grundfesten des Kapitalismus, der seit annähernd zwei Jahrhunderten gepredigt hat, dass alles, was nicht wächst, stirbt.


Das war auch die Grundlage für die Kapitalismusanalyse von Karl Marx. Sollte sich, und vermutlich bleibt gar keine andere Wahl bei Strafe des Unterganges, das Wachstum als alleiniges Kriterium ad absurdum geführt haben, dann hat sich auch der Kapitalismus als Wirtschaftsform positiv aufgehoben. Dabei spielt keine Rolle, ob man die Soziale Marktwirtschaft als Übergangsform betrachtet oder nicht, denn Marktwirtschaft basiert nun mal auf dem Prinzip des Kapitalismus.
Das allein ist als Erkenntnis eine Revolution, deren Bedeutung für die Veränderungen im Denken des Menschen noch gar nicht abzuschätzen ist. Der Grundsatz des Wachsens, des Verdrängens, entspricht dem Verhaltensmuster des Menschen seit der Urzeit. Was jetzt benötigt wird, ist ein Umdenken in Richtung der Konzentration auf Wesentliches, vielleicht auch Verzicht, Entschleunigung bei gleichzeitig höherer Effizienz und besserer Nutzung aller vorhandenen Ressourcen.
Was als persönlicher Egoismus Triebkraft gesellschaftlicher Prozesse wurde, war einleuchtend und kaum zu widerlegen. Das Leben bewies immer wieder, dass der Stärkere siegt, Macht und damit auch das Recht auf seiner Seite hat. Nun eben diesen persönlichen Egoismus höheren gesellschaftlichen Erfordernissen unterzuordnen, intelligent statt brachial zu agieren, dem allgemeinen Interesse den Vorrang vor den persönlichen Interessen einzuräumen – das ist eine Kehrtwendung um 180 Grad.
Mit der Bildung der Bundestagskommission quer durch alle Parteien wird der politische Streit heftig entbrennen, welche Kriterien für die Beurteilung der Wirtschaftskraft in der Gesamtheit von Arbeits- und Lebensbedingungen künftig eine Rolle spielen. Die alten weltanschaulichen Gräben zwischen den Parteien dürften dabei aufeinanderprallen. Die FDP hat vermutlich andere Vorstellungen von Bewertungskriterien einer Volkswirtschaft als die Linken. Ebenso fraglich ist die Arbeit einer solchen Kommission, wenn sie nicht von Anfang an konsequent auf Gesamteuropa ausgerichtet ist. Doch damit wird es noch komplizierter, denn die Unterschiede zwischen dem Süden Spaniens oder Italiens und den skandinavischen Mitgliedländern ist enorm.
Um die Bedeutung des Umdenkungsprozesses zu erfassen, muss man sich näher mit dem BIP befassen. Hinter der Abkürzung verbirgt sich der Begriff des Bruttoinlandproduktes, das seit vielen Jahrzehnten für Volkswirtschaftler die entscheidende Maßzahl für die wirtschaftliche Stärke eines Landes war. Das Bruttoinlandsprodukt ist der Gesamtwert aller Güter (Waren und Dienstleistungen), die innerhalb eines Jahres innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft hergestellt wurden und dem Endverbrauch dienen. Der BIP sagt aber überhaupt nichts darüber, wie sinnvoll die Produktion oder der Verbrauch waren. Ein Beispiel: Ein Stau auf der Autobahn nützt niemandem, aber der BIP steigt, denn Benzin wird verbraucht, oder völlig unnütze Verpackungen lassen die Müllberge anschwellen, steigern aber dennoch den BIP. Das kann und soll nicht der Sinn einer prosperierenden Volkswirtschaft sein. Es ist also klar, dass Wachstum allein angesichts einer Welt mit schwindenden Ressourcen, sieben Milliarden Menschen auf der Erde und einer ungleichen Verteilung des Reichtums nicht mehr das alleinige Bewertungskriterium sein kann. Andere Größen kommen ins Spiel, wie Ressourcenschonung, Klimaschutz, Gesundheitsschutz, Ernährung, Altersvorsorge und vieles andere.
Das berühmte BIP ist also innerhalb dieses Komplexes von Bedingungen nur ein Merkmal, um den Entwicklungsstand und die Leistungsfähigkeit eines Staates zu beurteilen. Es bleibt allerdings die Frage, welche Kriterien künftig mit herangezogen werden, welche Grenzen bei der Beurteilung zu berücksichtigen sind. Wie schwierig das ist, sieht man schon daran, dass es nicht mal eine einheitliche Definition dazu gibt, was Armut ist und wann sie beginnt.
34 Mitglieder zählt die Enquete-Kommission des Bundestages und wird von der 31 Jahre jungen SPD-Abgeordneten Daniela Kolbe geleitet.
Es mag ein Zufall sein, dass Daniela Kolbe Physikerin wie die Kanzlerin ist, ebenso, dass sie auch aus dem Osten stammt, in Thüringen geboren wurde und in Leipzig studierte. Die Sozialdemokratin hat vermutlich noch einen eigenen Blick auf unterschiedliche Lebensverhältnisse und Wachstumsmöglichkeiten in Deutschland. Als stellvertretende SPD-Vorsitzende von Leipzig dürften ihr auch die Probleme von Sachsen-Anhalt nicht fremd sein. Ihre Kommission mit dem sperrigen Namen „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der sozialen Marktwirtschaft“ will bis 2013 einen neuen Indikator für den gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Fortschritt vorlegen. Der soll sich auch weiterhin auf das BIP stützen, aber um Kriterien wie Arbeitsqualität, Ressourcenverbrauch, Wohlstandsverteilung, Bildungschancen, Gesundheit und Lebenserwartung erweitert werden.
Ganz neu ist die Idee nicht. Es gibt bereits den so genannten Nationalen Wohlfahrtsindex, entwickelt von Ökonomen. Er hat die Abkürzung NWI und berücksichtigt die meisten der von der Kommission geplanten Erweiterungen. Vergleicht man das BIP mit dem NWI kommt man auf ein erschreckendes Ergebnis. Das BIP wuchs in Deutschland zwischen 1999 und 2007 und 7,4 Prozent, aber das NWI sank im gleichen Zeitraum um 3,2 Prozent.
Es ist also höchste Zeit zum Umsteuern. Doch ob es dazu kommt, und wenn ja, mit welchen Konsequenzen, ist mehr als fraglich. Bereits jetzt äußern sich selbst Kommissionsmitglieder skeptisch, weil bislang an den alten Mustern kaum gerüttelt werde.
Der eigentliche Erfolg das Nachdenkens ist die Gründung der Kommission selbst. Das beweist, dass zumindest das Problem des Wachstums in einer modernen Gesellschaft schon einmal wahrgenommen wurde. Da bleibt nur zu hoffen, dass der alte Spruch „Und wenn du nicht mehr weiter weißt, so gründe einen Arbeitskreis“ nicht der tatsächliche Anlass zur Kommissionsgründung war.