Plastikbecher und Moleküle mit „Erinnerung“

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FolienwerkBT Folienwerk Wolfen GmbH
Seit 1990 produziert die Folienwerk Wolfen GmbH co-extrudierte PET-Folie.
Foto: IMG

Seit zehn Jahren ist die Herotron E-Beam Service GmbH als Dienstleister für die industrielle Behandlung von Materialien mit beschleunigten Elektronen tätig. Das Unternehmen betreibt am Standort Bitterfeld-Wolfen – inmitten der Chemieregion von Sachsen-Anhalt – zwei Hochleistungs-Elektronenbeschleuniger.
Beide Anlagen werden für das gezielte Modifizieren der Stoffeigenschaften von Kunststoffen und Kunststoffbauteilen, für die Sterilisation von Medizinprodukten und Verpackungen sowie für das Veredeln von Edelsteinen und Kristallen eingesetzt. Bei 170 Grad Celsius dauert es rund 40 Minuten, bis aus dem verknüllten, zusammengepressten Etwas ein blauer Kunststoffbecher aufersteht. Derweil ist daneben ein weiterer Becher formlos dahin geschmolzen. „Was wir mit diesen Kunststoffbechern machen, ist ein Gag mit praktischem Hintergrund“, erklärt Yves Kaufhold, Betriebsleiter der Herotron E-Beam Service GmbH in Bitterfeld-Wolfen. „Wir machen damit quasi Unsichtbares sichtbar“, erläutert er. Denn mit dem kleinen Experiment lässt sich die Wirkung beschleunigter Elektronen auf Polymere verdeutlichen. Zu sehen war das auf dem Stand der Investitions- und Marketing Gesellschaft Sachsen-Anhalt (IMG), während der Kunststoffmesse Swiss Plastics in Luzern.

Als die heutige Herotron E-Beam Service GmbH im Jahre 2004 am Standort Bitterfeld-Wolfen ihr Werk errichtete, stand zunächst die Behandlung von Edelsteinen im Vordergrund. „Die Elektronenbeschleuniger erzeugen ionisierende Strahlung ohne radioaktive Isotope“, erklärt Kaufhold. Im Innern der Geräte werden Edelsteine wie Topas oder andere Kristalle mit den beschleunigten Elektronen beschossen. Die dabei frei werdende Energie verändert das Kristallgitter im Material, weshalb auftreffendes Licht anders gebrochen wird. Dieser gewünschte Effekt sorgt dafür, dass beispielsweise der Topas anschließend in den typischen Blautönen schimmert. „Bei den Edelsteinen ist das Ergebnis nach einer Elektronenstrahlbehandlung für jedermann sichtbar. Ganz anders ist das jedoch bei unseren beiden wichtigsten Geschäftsfeldern. Hier sind die Ergebnisse leider nicht ohne weiteres sichtbar“, erläutert Kaufhold weiter. Herotron setzt die beiden Hochleistungs-Elektronenbeschleuniger inzwischen überwiegend für das Modifizieren von Kunststoffen und das Sterilisieren von Medizinprodukten und Verpackungen ein.

Auch bei der Behandlung von Kunststoffen geht es um gezielte Eigenschaftsänderungen. Beim so genannten Strahlenvernetzen verbinden sich die vorhandenen Molekülketten durch das Einbringen der Energie der Elektronenstrahlen zu einem neuen homogenen Gefüge. Das auch als physikalisches Vernetzen bezeichnete Verfahren verhilft Massenkunststoffen und klassischen technischen Kunststoffen zum thermischen, chemischen, mechanischen und tribologischen Eigenschaftsniveau von Hochleistungskunststoffen. Indem einzelne Bereiche gezielt abgeschirmt werden, sind außerdem partielle Vernetzungen möglich, um etwa an einem Bauteil unterschiedliche Festigkeiten zu erzielen.

Das Strahlenvernetzen gewinnt speziell im Fahrzeugbau für hoch belastete Bauteile an Bedeutung. Hintergrund ist, dass besonders an Bauteile im Motorbereich höchste Anforderungen etwa hinsichtlich der Temperatur- und Chemikalienbeständigkeit gestellt werden. Statt teure und schwer zu verarbeitende Hochleistungskunststoffe einzusetzen, nutzen Verarbeiter und Erstausrüster zunehmend die Möglichkeit des Strahlenvernetzens.

Schon an der Schwelle zum 20. Jahrhundert entwickelte sich der Raum Bitterfeld-Wolfen zur wichtigsten Chemieregion Mitteldeutschlands. Mittlerweile hat sich die chemische und Kunststoff verarbeitende Industrie dieser Region europaweit zu einem der modernsten Industriezweige für innovative Produkte und Dienstleistungen entwickelt. Geprägt ist die Branche durch überwiegend mittelständische Unternehmen wie Herotron. Viele der Betriebe arbeiten eng mit Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen zusammen. Mit der Bildung des Clusters „Chemie/Kunststoffe Mitteldeutschland“ haben Sachsen-Anhalt und seine Nachbarländer einen Prozess angestoßen, der Mitteldeutschland als Chemie- und Kunststoffregion international wettbewerbsfähig macht. Die Kunden von Herotron kommen aus den unterschiedlichsten Branchen, darunter unter anderem Automobilhersteller und deren Zulieferer, Elektro- und Elektronikindustrie, Chemie, Pharmazie und Kosmetik, der Luftfahrt und der Bauindustrie und der Medizintechnik. Sie profitieren übrigens auch logistisch vom Standort des Dienstleisters direkt an der Autobahn A9 und unweit des Logistikdrehkreuzes Leipzig. Denn für viele der aus ganz Europa kommenden Kunden liegen die Elektronenbeschleuniger quasi auf dem Weg zu Endabnehmern.

Dieser Aspekt ist besonders für die Kunden interessant, die ihre Produkte sterilisieren lassen. Denn aufgrund der kurzen Durchlaufzeiten von wenigen Sekunden lässt sich die Strahlensterilisation optimal in die Just-in-time-Logistik der Kunden integrieren. Nachdem die Produkte durch die Bestrahlungsanlage gelaufen sind, können sie ohne Wartezeit sofort palettiert und transportfertig gemacht werden. Herotron ist seit März 2012 für das Sterilisieren von Medizinprodukten und Verpackungen zertifiziert. Die Elektronenstrahl-Sterilisation gilt als sicheres und effektives Verfahren, um Mikroorganismen und DNA-Fragmente zuverlässig unwirksam zu machen beziehungsweise abzutöten. Verglichen mit anderen Verfahren (Dampf, Ethylenoxid oder Gammabestrahlung) ist die Sterilisation mit beschleunigten Elektronen zudem weitaus umweltschonender und wirtschaftlicher.

Ob medizinische Geräte oder Implantate, Fertigspritzen, Einmalmaterialien, Verbandsmittel oder Verpackungen für Lebensmittel und die Pharmazie, sterilisiert werden die Produkte unter normalen Umgebungsbedingungen in ihrer keimdichten Primärverpackung im Umkarton. Weil dabei eine durchgehende Sterilisation stattfindet, eignet sich das Verfahren auch für Produkte mit komplizierten Geometrien. Überdies erwärmt sich das Sterilisationsgut dabei nur minimal, weshalb sich das Verfahren auch für temperaturabhängige oder tiefgefrorene Produkte eignet, betont der Betriebsleiter.

Zurück zum eingangs vorgestellten Kunststoffbecher: „Beim Strahlenvernetzen ist das Ergebnis im Grunde nur mit einer Materialprüfung nachzuweisen, oder am Beispiel der Kunststoffbecher vorzuführen“, schmunzelt Kaufhold. „Durch die Behandlung wird dem Material ein ‘Erinnerungseffekt eingepflanzt’. Verformt man so ein Bauteil und erwärmt es erneut, richten sich die Moleküle wieder aus“, beschreibt er den Effekt. Und auf einen zweiten Aspekt weist er hin: Die Vernetzung hat die Temperaturbeständigkeit des Polymers verbessert, weshalb der unbehandelte Becher dahin geschmolzen ist. Der Memoryeffekt könnte in der Medizintechnik für Fortschritte sorgen, wie Kaufhold berichtet. Demnach arbeiten Forscher bereits an Implantaten, die erst an Ort und Stelle ihre gewünschte Form entfalten. Übrigens – wer keine 40 Minuten abwarten will kann sich die Auferstehung des Bechers im Zeitraffer ansehen.