Süßes ohne Reue dank Wunderkraut

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Naschen ohne Bedenken? Keine zusätzlichen Pfunde und die Zähne werden nicht angegriffen? Süßer als Zucker und keine Kalorien? Das alles verspricht der neue Süßstoff Stevia rebaudiana. Doch was taugt die natürliche Zuckeralternative?

Sie ist die neue Chance der Lebensmittelindustrie und hat bereits eine lange Geschichte. Stevia rebaudiana wird seit Jahrhunderten von den Ureinwohnern des Dreiländerecks Paraguay, Brasilien und Argentinien, den Guaranis, als Süßstoff und als Mittel gegen Magenschmerzen verwendet. Stevia rebaudiana, auch als Honigkraut bezeichnet, ist eine unscheinbare Pflanze mit großer Wirkung. Stevia ist mit 150 verschiedenen Arten in der Familie der Korbblüter verwandt, doch nur diese besitzt diese Besonderheit. Die Süßkraft der Stevia rebaudiana liegt bis zu 300 Mal höher gegenüber der von Zucker, enthält keine Kalorien und schädigt die Zähne in keiner Weise. Zudem ist sie für Diabetiker unbedenklich, da sie den Blutzuckerspiegel nur unwesentlich beeinflusst.
Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte der Schweizer Naturwissenschaftler Moisés Bertoni die Pflanze auf einer Reise nach Paraguay. In Japan ist Stevia rebaudiana seit 1976 in Lebensmitteln zugelassen, in den USA, Australien und Neuseeland seit 2008. Nach Europa wurden seit 1986 zahlreiche Tonnen Stevia-Blätter und Steviol Glykoside importiert und dort konsumiert. Trotzdem galt es seit 1997 als Novel-Food („neuartiges Lebensmittel“) und wurde 2001 wegen angeblich fehlender wissenschaftlicher Informationen zur gesundheitlichen Unbedenklichkeit vom Markt genommen.
Doch unter der Bezeichnung „Badezusatz“ oder „Kosmetisches Produkt“ konnte man Stevia rebaudiana weiterhin in Reformhäusern finden. Grund für den Importstopp war der Verdacht, dass der Süßstoff krebserregend sei, Embryonen schädige und sogar Unfruchtbarkeit verursache. Weitere Tests in den folgenden Jahren blieben ohne derartige Ergebnisse. Ein abschließendes Gutachten der Europäischen Lebensmittelsicherheitsbehörde (EFSA) im April 2010 beschrieb Stevia rebaudiana mit einer Reinheit von mindestens 95 Prozent als unbedenklich und bestätigte damit das Ergebnis des Berichts der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 2008. Seit Dezember 2011 ist Stevia rebaudiana ein als „Lebensmittelzusatzstoff E960 zugelassenes Süßungsmittel“. Für die Verarbeitung wurde festgelegt, dass eine Tageshöchstdosis von vier Milligramm je Kilo Körpergewicht beim Menschen nicht überschritten wird.
In den USA und Japan ist die Pflanze längst nicht mehr wegzudenken.
Die Getränkeindustrie ist begeistert vom neuen Süßstoff. Patente für Getränke mit Stevia-Süße wurden schon angemeldet. Der Konzern Coca-Cola wirbt bereits mit einem neuen Diätprodukt in den USA: Sprite Green – Natürliche Süße und 50 Prozent weniger Kalorien, wobei natürliche Süße nicht ganz korrekt ist, denn die Süßstoffe werden durch ein komplexes chemisches Verfahren aus den Blättern der Pflanze gewonnen und sind somit nur natürlichen Ursprungs.
Eine „Zuckerrevolution“ wird es dennoch vorerst nicht geben, denn mit Stevia rebaudiana lassen sich durch die Vorgaben der EU beispielsweise bei Getränken maximal 30 Prozent des Zuckeranteils ersetzen und die übrige Menge müsste weiterhin mit Zusatzstoffen wie Aspartam, Saccharin oder dem herkömmlichen Zucker aufgefüllt werden. Zudem besitzt der „neue“ Süßstoff einen leicht bitteren Beigeschmack, der von der Reinheit des Süßstoffes und dem Anteil an Rebaudiosid A, von dem die Süßkraft ausgeht, abhängig ist.
Kann sich der „Wunderstoff“ dennoch gegen die herkömmlichen Süßungsmittel durchsetzen? Seit 2011 befindet sich die EU in einer Zuckerknappheit. Süßwaren- und Getränkehersteller beschweren sich über Engpässe und steigende Beschaffungskosten. Da käme Stevia gelegen, um zumindest einen Teil der fehlenden Mengen zu decken. Der Zuckerpreis stieg im Februar dieses Jahres auf den höchsten Preis seit fast vier Monaten, obwohl die Kampagne, also die Zuckerrübenernte 2011, beispielsweise in Sachsen-Anhalt mit einem Rekordergebnis abgeschlossen hat. Das verstärkt den Druck auf den Einsatz alternativer Süßstoffe.
aspekt befragte zuckerverarbeitende Betriebe aus unserem Bundesland und aus ganz Deutschland, ob und wie sie Stevia einsetzen werden. Der Handel bietet den Süßstoff auf natürlicher Basis seit kurzem ebenfalls an, allerdings klammheimlich und ganz leise, ohne großen Werbeaufwand.
Der Marmeladen- und Süßwarenhersteller Zentis aus Aachen stellte während der ISM, der weltweit größten Süßwarenmesse, Stevia-Produkte vor, die ab April in den Handel kommen sollen. „Leichte Früchte“ nennen sich die neuen, mit Stevia gesüßten Konfitüren. Gegenüber herkömmlichen Produkten hätten sie 30 Prozent weniger Kalorien, böten aber den gewohnten Zentis-Fruchtgeschmack, schwärmt Zentis-Chef Karl-Heinz Johnen. Ostdeutschlands ältester und bekanntester Backmischungshersteller KATHI teilte uns mit: „KATHI verwendet den Süßstoff nicht, da er nicht für feine Backwaren zugelassen ist.“ Nach Auskunft des Unternehmens wurden aber bereits Tests mit Stevia durchgeführt, in der Hoffnung, dass es bald auch für Backmischungen genehmigt wird.
Der Schokoladenhersteller Argenta informierte darüber, dass Stevia aktuell für sie kein Thema ist, will aber die Verwendung für die Zukunft auch nicht ausschließen.
Aus Deutschlands ältester Schokoladenfabrik Halloren berichtete uns Marketingleiter Tino Müller, dass Stevia derzeit nicht in den Produkten enthalten und für dieses Jahr keinerlei Verwendung des neues Süßstoffs angedacht ist. Jedoch hat sich das Unternehmen bereits mit der Thematik auseinandergesetzt und feststellen müssen, dass Stevia vor allem für ihr Markenzeichen, die Halloren Kugel, nicht verwendet werden kann.