Seit der Naturkatastrophe in Japan und ihren Folgen in den Atomkraftwerken ist eine heftige Diskussion zur Sicherheit der Atomkraftwerke in unseren Breiten, aber auch zu den Lagermöglichkeiten des atomaren Mülls entbrannt. aspekt befragte dazu Hartmut Schulze, Diplom-Physiker, Mitglied im Direktorium des Fachverbandes für Strahlenschutz e.V. und in Beendorf in Sachsen-Anhalt zu Hause
Zwischenlager und Erkundungsbergwerk Gorleben aus der Luft.
aspekt: Welche Auswirkungen hatten Erdbeben und Tsunami auf das Unglücks-Atomkraftwerk in Japan?
Hartmut Schulze: Das Erdbeben der Stärke 9,0 hat durch das Bersten von Gasleitungen, Zerstörungen in Ölraffinerien und das Einstürzen von Gebäuden viele Menschen das Leben gekostet. Im Gegensatz zu diesen Anlagen erfolgte in den vom Erdbeben betroffenen Kernkraftwerken sofort und automatisch die Reaktorschnellabschaltung, was einen Stopp der nuklearen Kettenreaktion bedeutete. Obwohl die Kernkraftwerke in Japan für Erdbeben bis zur Stärke 8,2 ausgelegt sind, hätten sie wahrscheinlich sogar das Erdbeben der Stärke 9,0 überstanden. Aber es stellt sich jetzt natürlich ganz allgemein die Frage, ob bzw. wie man in einer solchen Erdbeben-Region Industrieanlagen mit großen chemischen oder radioaktiven Gefährdungspotenzialen betreiben kann.
Die Situation in Japan ist neben den direkten Auswirkungen des Erdbebens vor allem durch den nachfolgenden Tsunami verschlimmert worden, der weitere größere Schäden verursacht hat. Die Doppelbelastung Erdbeben plus Tsunami verkrafteten die Anlagen im Kernkraftwerk Fukushima dann nicht mehr. Denn auch wenn in einem Kernkraftwerk die Kettenreaktion gestoppt ist, muss die Wärme, die durch den radioaktiven Zerfall von hochradioaktiven Produkten der Kernspaltung entsteht, weiter abgeführt werden. Die zum Betrieb der dafür vorhandenen Kühlanlagen erforderlichen Notstromgeneratoren wurden allerdings ebenso vom Tsunami zerstört, weil die Schutzeinrichtungen nicht für derartig hohe Wellen ausreichten.
aspekt: Ist denn die neu entbrannte Diskussion um die Atomenergie überhaupt mit rein technischen Argumenten zu führen?
Hartmut Schulze: Nein, allein mit sachlichen Einschätzungen und der Überprüfung von technischen Prozessen ist es leider nicht getan. Die Ereignisse in Japan haben die Kernkraftnutzung in den Augen weiter Teile der deutschen Bevölkerung diskreditiert. Der Kampf von politischen Kräften gegen die Kernkraft im Zusammenspiel mit Medien, für die nur „eine schlechte Nachricht eine gute ist“, scheint in Deutschland entschieden! Leider rücken die völlig außer Balance geratenen Einschätzungen in manchen Medien, was und wie hoch Strahlenwirkungen eigentlich sind, die Zerstörung der Reaktoren in Fukushima und die damit verbundene radioaktive Bedrohung hier in Deutschland unangemessen weit in den Vordergrund. Tausende von Ertrunkenen und Erschlagenen sind offenbar weniger Nachrichten wert als die Lage um die havarierten Kernkraftwerke. Man gewinnt gar den Eindruck, dass mitunter wenig Verständnis dafür aufgebracht wird, dass die japanische Bevölkerung die Wucht der Naturkatastrophe als den wesentlichen Schlag ansieht. Insofern sind die Entscheidungen der Bundesregierung mit Sicherheit auch politische Entscheidungen.
aspekt: In Fukushima sind ja auch radioaktive Stoffe freigesetzt worden. Mittlerweile soll diese „radioaktive Wolke“ aus Japan sogar schon hier in Europa messbar sein?
Hartmut Schulze: Es gibt im Gegensatz zu dem Reaktorunfall von Tschernobyl oder manchen Darstellungen in Spielfilmen beim Fall Fukushima nicht „die radioaktive Wolke“. In Fukushima haben eine Reihe von Emissionen von radioaktiven Gasen oder Partikeln stattgefunden. Durch die ausgefallene Kühlung und die hohen Temperaturen hat sich infolge chemischer Reaktionen von Wasser mit dem Hüllrohrmaterial Zirkonium der Brennelemente verschiedentlich Wasserstoff gebildet, der explodiert ist. Ebenfalls wegen der erhöhten Temperaturen kam es an mehreren Stellen, so auch in den Reaktoren und anderen Bereichen zu Druckanstieg. Dieser musste durch Öffnen von Ventilen abgebaut werden. Des Weiteren entstanden Brände mit einem entsprechenden Luftauftrieb. Andere Zerstörungen führten zu Lecks, aus denen radioaktive Stoffe austraten. Alle diese Geschehnisse führten zur Freisetzung und Verbreitung von radioaktiven Stoffen in die Umgebung, allerdings nicht in Form einer mit Tschernobyl vergleichbaren Wolke. Diese Aussage gilt allerdings nur für den Fall, dass es nicht noch zu anderen gravierenden Prozessen, wie einer kompletten Kernschmelze kommt.
aspekt: Was war denn so anders in Tschernobyl?
Hartmut Schulze: In Tschernobyl fand eine Exkursion der nuklearen Kettenreaktion auf etwa das Hundertfache der Nennleistung und in deren Folge eine Explosion des Reaktors statt, verbunden mit einem massiven Brand von Graphit, was eine Freisetzung eines Teiles des Kernbrennstoffes und von Spaltprodukten in mehr als 1000 Meter Höhe nach sich zog. Diese radioaktive Wolke verbreitete sich über große Entfernungen.
Andererseits besteht in Fukushima das Problem darin, dass nicht nur ein Reaktor betroffen und damit das Gesamtinventar an radioaktiven Stoffen größer als in Tschernobyl ist. Da an vielen Stellen Emissionen stattgefunden haben und noch stattfinden, sind die Kontaminationen im Werk und in der Umgebung und damit die Strahlendosen relativ hoch.
aspekt: Welche Rolle spielt Strahlung im täglichen Leben?
Hartmut Schulze: Emittierte radioaktive Stoffe aus Fukushima werden nur in extrem verdünnter Größenordnung nach Europa gelangen. Sie sind kaum messbar und die daraus entstehende Strahlung wird überlagert von Strahlung aus natürlichen radioaktiven Quellen, von denen wir ständig umgeben sind. Aus dem Kosmos und aus dem Erdreich sowie aus natürlichen Radionukliden in Nahrung und Atemluft stammende Strahlung verursacht bei uns im Durchschnitt eine sogenannte Dosis von 2,1 Millisievert pro Jahr. Dieser Wert schwankt stark und erreicht in manchen Regionen der Welt das Zwanzigfache. Die Dosis der aus Tschernobyl zu uns verbreiteten radioaktiven Partikel beträgt demgegenüber lediglich 0,015 Millisievert im Jahr. Wenn Radioaktivität aus Fukushima zu uns gelangen sollte, wird dies in noch weit geringerer Größenordnung sein. Das Bundesamt für Strahlenschutz unterhält mit 1800 Messsonden ein umfassendes Frühwarnsystem für Radioaktivität in Deutschland. Mit Hilfe dieses Systems können bereits geringfügige Änderungen der Umweltradioaktivität flächendeckend, schnell und zuverlässig erkannt werden.
aspekt: Und doch gibt es Warnungen. Die Nachfrage nach Jod-Tabletten und Geiger-Zählern ist beispielsweise stark angestiegen?
Hartmut Schulze: Warnungen vor radiologischen Auswirkungen für die europäische Bevölkerung sind unangebracht. Unter keinen Umständen ist hier mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung zu rechnen. Die apokalyptischen Darstellungen von Strahlenschäden, wie sie nach hoher Strahlenexposition auftreten, sind irreführend im Zusammenhang mit den bisherigen Ereignissen. Dies ist weder für die japanische Bevölkerung noch für die Bevölkerung in Europa zu erwarten. Ausgenommen von dieser Einschätzung sind die vor Ort eingesetzten Arbeiter, wobei auch für diese die zulässigen Strahlendosen von den japanischen Behörden begrenzt und überwacht werden.
Die Einnahme von Jodtabletten ist nicht nur überflüssig, sondern kann gesundheitsschädlich sein. Überdies forciert eine unsolide Berichterstattung Fehleinschätzungen von möglichen Strahlenwirkungen in der Bevölkerung auch in den Bereichen, wo Strahlung in erheblichem Umfang angewandt und wie z.B. in der Medizin großen Nutzen bringt
aspekt: Sie beschäftigen sich bei der GNS Gesellschaft für Nuklear-Service mbH in Gorleben mit dem Strahlenschutz bei der Entsorgung von radioaktiven Abfällen. Auch um dieses Thema gibt es heftige politische Diskussionen. Unabhängig davon: Ist die Entsorgung von radioaktiven Abfällen aus rein technischer oder Strahlenschutzsicht lösbar?
Hartmut Schulze: Die Entsorgung radioaktiver Abfälle ist mit all ihren Teilschritten technisch gelöst bzw. lösbar. Die Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen erfolgt in mehreren Ländern als Routinearbeit. Die Zwischenlagerung von Brennelementen, wie auch von hochradioaktiven Abfällen aus der Wiederaufarbeitung bis zu einem Zeitpunkt, an dem die Radioaktivität und die Wärme soweit abgeklungen sind, dass eine Endlagerung möglich wird, funktioniert in Deutschland an 12 dezentralen und drei zentralen Standorten. Einer davon ist Gorleben. Zur Konditionierung von Brennelementen zur Herstellung von endlagerfähigen Gebinden ist eine Pilotkonditionierungsanlage in Gorleben vorhanden und betriebsbereit. Die kerntechnische Industrie hat ihre Pflichten also erfüllt.
aspekt: Und warum gibt es dann noch immer kein Endlager für hochradioaktive Abfälle?
Hartmut Schulze: Die Endlagerung radioaktiver Abfälle ist in Deutschland eine Aufgabe des Staates. Der Schacht Konrad bei Salzgitter ist als Endlager für nicht Wärme erzeugende Abfälle genehmigt und wird derzeit dafür umgebaut. Die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle wäre ebenso technisch lösbar wie die anderen Entsorgungsschritte, ist jedoch leider aus politischen Gründen umstritten.
Durch den physikalisch bedingten und sehr genau bekannten Zerfall von allen radioaktiven Stoffen ist die Endlagerung radioaktiver Abfälle grundsätzlich besser planbar und durchführbar als die anderer gefährlicher Abfälle. Wenn auch einige der in den radioaktiven Abfällen enthaltenen Radionuklide sehr lange Halbwertszeiten haben, so ist deren Endlagerung jedoch in jedem Fall eine endliche Angelegenheit. Radioaktive Abfälle müssen solange von der Biosphäre isoliert werden, bis ihre Radioaktivität, d.h. ihr Gefährdungspotenzial, durch radioaktiven Zerfall auf ein Level abgeklungen ist, das auch bei natürlichen radioaktiven Stoffen in der Erde vorhanden ist.
Diesen Vorteil besitzen zum Beispiel chemisch-toxische Stoffe nicht, die ähnlich wie radioaktive Abfälle in tiefen geologischen Formationen endgelagert werden. Viele Bestandteile dieser Abfälle bleiben ewig gefährlich. Sie haben im Gegensatz zur Radioaktivität die Halbwertszeit „unendlich“! Es gibt in Deutschland mehrere Endlager für chemisch-toxische Abfälle, in denen pro Jahr gut 100.000 Tonnen eingelagert werden. In allen Fällen handelt es sich bei den Einlagerungshohlräumen um Kammern, die beim Abbau von Salz entstanden sind.
Außerdem ist es nichts Unnatürliches, radioaktive Stoffe in tiefen geologischen Formationen zu lagern. Die Erde ist vor ungefähr 4,6 Milliarden Jahren durch Anhäufung von Materie entstanden. Hierbei hat sich das Material erhitzt. Diese Wärmeenergie hat sich wegen der geringen Wärmeleitfähigkeit der Gesteine bis heute zum Teil erhalten und kann als Restwärme aus der Zeit der Erdentstehung bezeichnet werden. Rund zwei Drittel der Wärme im Erdinneren gehen jedoch auf den ständig stattfindenden natürlichen Zerfall der im Erdkörper vorhandenen langlebigen radioaktiven Isotope zurück. Es handelt sich um eine natürliche Form der Kernenergie. Die Leistung, die aus dem radioaktiven Zerfall in der Erde resultiert, beträgt etwa 25 Terawatt. Dies entspricht etwa der Energie, die mehr als 25.000 Kernkraftwerke liefern könnten.
Doch nicht nur das Erdinnere ist ein gigantischer natürlicher Kernreaktor. Die Natur hat auch Kernreaktoren in der Erdrinde geschaffen. In Oklo (Gabun / Afrika) hat es vor rund zwei Milliarden Jahren mehrere natürliche Kernreaktoren gegeben. Die radioaktiven Abfälle sind in zwei Milliarden Jahren nur um wenige Meter vom Ort ihrer Entstehung fort gewandert. Weder die Natur noch Lebewesen haben Schaden erlitten. Die in diesem natürlichen prähistorischen Endlager vorhandene Wärmeleistung von etwa 50 Watt pro Kubikmeter war um ein Vielfaches höher als in den heute geplanten Endlagern für hochradioaktive Abfälle.
Diese Beispiele zeigen, dass die Natur uns erhebliche Strahlendosen und Radioaktivitätsinventare aufbürdet, ohne dass wir davon Schaden nehmen. Mit den vorgesehenen technischen Lösungen für die Endlagerung radioaktiver Abfälle würden wir im Vergleich dazu viel restriktivere Belastungen zulassen. Damit ist die Endlagerung im Prinzip lösbar.
aspekt: Sie sind in verschiedenen Fachgremien als Strahlenschutzexperte vertreten. So sind Sie Mitglied im Direktorium des deutsch-schweizerischen Fachverbandes für Strahlenschutz. Welche Erfahrungen hat man in anderen Ländern mit den Themen Entsorgung und Strahlenschutz gemacht?
Hartmut Schulze: Eine Endlagerung von radioaktiven Abfällen mit langer Halbwertszeit wird in den USA im Wirtsgestein Salz durchgeführt und ist für hochradioaktive Abfälle in Schweden sowie in Finnland im Granit beabsichtigt. Ton als Wirtsgestein für hochradioaktive Abfälle ist in der Schweiz, in Frankreich und in Belgien vorgesehen. In Schweden und Finnland haben sich Gemeinden darum beworben, Standort für ein Endlager zu werden.
Es gibt weltweit in vielen Ländern Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle auf der Erdoberfläche. In Schweden, Finnland, Deutschland und den USA existieren Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle im geologischen Untergrund. Das künftige Endlager Schacht Konrad ist ein ehemaliges Eisenerzbergwerk.
Die grundsätzlichen Erkenntnisse im Strahlenschutz werden von der International Commission of Radiological Protection ICRP regelmäßig weltweit gebündelt und in Form von Empfehlungen weitergegeben. Die International Atomic Energy Agency IAEA und andere UNO-Organisationen formulieren grundlegende Vorgaben für den Strahlenschutz und die Entsorgung. Diese münden über die EU-Ebene in das deutsche Atom- und Strahlenschutzrecht. Die Strahlenschutzfachleute sind in Fachverbänden organisiert, so unter anderem 1400 Fachleute im deutsch-schweizerischen Fachverband für Strahlenschutz, welcher Mitglied der International Radiation Protection Association IRPA ist. Durch dieses Netzwerk sind ein intensiver Erfahrungsaustausch und nationale Regelwerke auf weitgehend vergleichbarem fachlich-technischem Level gegeben.