Die Pariser Metro ist eine Welt für sich, eine unterirdische dazu. Sie wurde 1900 anläßlich der Weltausstellung als vierte U-Bahn Europas eröffnet. Das Pariser U-Bahn-Netz gehört mit 214 Kilometern zu den größten der Welt. Typisch sind unter anderem die geringen Abstände zwischen den einzelnen Stationen – im Schnitt rund 500 Meter.
Für aspekt begab sich Mark Iden in die Pariser Unterwelt auf Schienen und schildert seine Eindrücke.
„Attention á quai“ schallt es mit einer streng betonten Frauenstimme aus den Lautsprechern des Bahnhofes Saint Lazare, während der grün-weiß gestreifte Zug der Metro Linie M14 zügig in die Station einfährt. Das heißt soviel wie „Vorsicht am Bahnsteig“ und
bei dem Gedränge auf dem Bahnsteig nehme ich diese Warnung der Einfahrt des Zuges sehr ernst. Jetzt heißt es, noch bevor das Abfahrtsignal endet und sich die Türen schließen, in den Zug zu kommen, selbst wenn man weiter hinten eine ungünstige Startposition hat. Aber ich schaffe es, mich noch während des Abfahrsignals zeitgleich mit den anderen Fahrgästen in den überfüllten Waggon zu quetschen.
Spätestens jetzt haben auch die Nagetiere auf den Gleisen der Pariser Unterwelt das Signal verstanden und suchen schnell das Weite und für mich beginnt eine Abenteuerfahrt in Richtung Endstation „Olympiades“.
Als erstes steigt mir ein extrem stechender Geruch in die Nase, der auch von anderen Touristen mit einem sichtbaren Nase rümpfen registriert wird. Im vollgestopften Waggon vermischen sich die Düfte der abgefahrenen Gummireifen des Zuges – nicht alle Linien haben diese Besonderheit – mit den Ausdünstungen der Fahrgäste, eine Komposition, an der auch DIOR, CHANEL und CARTIER nichts zu ändern vermögen.
Nachdem an der nächsten Station „Madeleine“ zwei Touristen mit ihren riesigen, hoch aufragenden Rucksäcken aussteigen, ist es mir endlich möglich, Luft zu holen und einen Blick auf das mitreisende Publikum zu erhaschen.
Ob feine Herren im Nadelstreifenanzug oder zerzauste Bettler, allesamt sind sie mit der Metro unterwegs. Da ist eine Gruppe Inder mit bunten Taschen voller Miniatureiffeltürme, Afrikaner in angeregt lauter Unterhaltung, Asiaten, die trotz moderner Kopfhörern ihre Lieblingsmusik auch alle anderen Mitreisenden hören lassen und natürlich jede Menge Touristen, die wie ich versuchen, die Geheimnisse des Metrosystems zu entschlüsseln. Und gleich daneben:
Elegante Damen in edlen Kostümen, luxuriöse Hüte und exquisite Handtaschen. Selbst ausgefallene Haute Couture aus Paris findet sogar unter den Straßen von Paris einen passenden Laufsteg.
Die Linie M14 fährt vollautomatisch. Ensprechend ruppig bahnt sich der Zug den Weg in Richtung Endstation, und bei mir entsteht das Gefühl, das wohl auch der Zug keine Lust mehr hat und auf die Endstelle wartet. An allen Tunnelwänden auf der Strecke ist Graffiti zu sehen. Wenn die Metro gegen 0 Uhr ihren Fahrbetrieb einstellt, klettern die Sprayer in die Schächte und lassen ihrer künstlerischen Phantasie freien Lauf. Dabei befinden sich ihre klassischen Kollegen in berühmten Kunsttempeln, wie das Musée de Louvre, das Centre Pompidou oder die Cité de la musique nur wenige Meter über ihnen.
Mein Erstaunen ist groß, ob der exakten Punktlandung im Bahnhof Châtelet trotz späten Bremsens. Die Waggontüren stehen genau vor den „Bahnsteigtüren“. Diese Schutzeinrichtungen gibt es noch nicht überall. Wegen der hohen Selbstmordrate – zwei Freitode in der Woche sind der Durchschnitt – sind entlang der Bahnsteigkante unüberwindliche Schutzbarrieren aufgestellt.
Während sich die Barrieren und Türen wieder schließen, versucht ein Fahrgast sich noch in den Waggon zu quetschen. Nachdem es gelingt, den in der Tür eingeklemmten Mann noch in den Zug zu ziehen, bleibt dieser trotz der Rettungsaktion völlig gelassen. Das ändert sich erst, als er feststellt, dass seiner Tasche nicht das gleiche Glück vergönnt war.
Endlich erreichen wir den Bahnhof Gare de Lyon, wo viele andere Fahrgäste mit mir umsteigen. Tumultartig begibt sich die Menschenschar in Richtung Ausgang. Noch schnell ein kurzer Blick zurück zum Zug, welcher aber auch schon wieder im nächsten Tunnel verschwunden ist.
Doch eines steht noch bevor. Ein Hindernis, das wie bei einer Sortiermaschine den Touristen vom erfahrenen Einheimischen trennt. Es ist ein einfacher, fieser Ticketautomat, der nur dann Durchgang gewährt, wenn man seinen bei Fahrtbeginn abgestempelten Fahrschein am Ende noch einmal durchziehen kann. Wehe, wer seinen Reiseratgeber missachtet und den Fahrschein schon vorher entsorgt hat. Da steht sie dann, die Touristenfamilie samt Kindern, ohne Fahrschein. Sie werfen die Taschen über die Schranken, die Kinder gleich mit und entwickeln enorme Kletterfähigkeiten, um den Koloss zu überwinden.
Nach dem Passieren der Schranken und unzähliger weitläufiger Gänge in Richtung Ausgang spiegeln sich die ersten Pariser Sonnenstrahlen der Oberwelt. Ich sehe Ausflugsboote, die entlang der Seine fahren, lausche den Hupkonzerten von Autos und Motorrollern und entdecke begeistert eine Ansammlung von dicht an dicht geparkten Fahrrädern, welche man auf gut ausgebauten Radwegen entlang der Seine zur Stundenmiete nutzen kann.
Der Unterwelt unbeschadet entkommen, ist das genau die richtige entspannende Alternative für den Rückweg durch die Straßen des pulsierenden Paris.