Werner Rodinski aus Magdeburg fährt einen 40-Tonnen-Truck mit Waren für ganz Europa. Spricht man ihn auf die Strecke Richtung Polen und Tschechien an, wird er sehr schnell munter. Tag und Nacht schiebt sich eine scheinbar endlose Schlange von Lastkraftwagen von West nach Ost und umgekehrt. Das nervt, kostet Zeit und Geld. Es ist aber auch ein Ausdruck für die überaus rege Handelstätigkeit zwischen den Visegrad-Staaten und Deutschland, also auch zwischen Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarn.
Deren Bedeutung wird häufig unterschätzt, wie Krysztof Blau, Referent Europa der Industrie- und Handelskammer Magdeburg am Rande des von ihm organisierten V4-Wirtschaftstages im Oktober erklärte.
Die V4-Länder (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) generieren mit ihren etwa 65 Millionen Einwohnern zusammen ein um über 50 Prozent höheres Handelsvolumen, als der größte Handelspartner Deutschlands, China. Für Sachsen-Anhalt sind die Wirtschaftsbeziehungen zu diesen Ländern von enormer Bedeutung. Nahezu ein Fünftel aller Auslandsumsätze werden mit den V4-Ländern erwirtschaftet. Polen ist dabei seit Jahren mit Abstand die Nr.1 für den sachsen-anhaltinischen Außenhandel.
Trotz der guten Wirtschaftsaussichten besteht allerdings die Gefahr, dass die politische und gesellschaftliche Stabilität sowie die Vorhersehbarkeit der Wirtschaftspolitik zur Achillesferse der Zusammenarbeit werden.
Welche neuen Schwerpunkte setzen die V4-Regierungen? Wird es Veränderungen der rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für (deutsche) Unternehmen geben und wenn ja, mit welchen Auswirkungen? Welche Erfahrungen machen sachsen-anhaltinische Unternehmen in diesen Ländern?
Diese und viele weitere Fragen standen im Mittelpunkt des V4-Wirtschaftstages der IHK Magdeburg, bei dem Unternehmer aus Sachsen-Anhalt, die in diesen Ländern tätig sind, über ihre Erfahrungen berichteten, außerdem aber auch mit Vertretern der deutschen Außenhandelskammern in den Ländern Einzelgespräche über die Möglichkeiten der Zusammenarbeit in den V4-Ländern geführt werden konnten.
Polen
Michael Kern, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Außenhandelskammer in Polen, verwies auf die gute Wirtschaftsentwicklung in Polen, die Jahr für Jahr eine Steigerung um die vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes vorweisen kann. Polen ist längst kein Billigland mehr, hat einen Mindestlohn von etwa 500 Euro im Monat, startete ein ambitioniertes Wohnungsbauprogramm und führte ein Kindergeld von rund 120 Euro ab dem zweiten Kind ein. Das hört sich wie ein sozialpolitisches Programm an, und es ist auch so gedacht. Schließlich gab es bis dato in Polen überhaupt kein Kindergeld.
Deutschland ist der größte Handelspartner mit einem Anteil an der polnischen Außenwirtschaft von 25 Prozent. Für Sachsen-Anhalt ist mit drei Milliarden Euro Ein- und Ausfuhrvolumen Polen die Nummer Eins mit rund zehn Prozent.
Bei den Auslandsinvestitionen steht Deutschland mit 30 Milliarden Euro ebenfalls in Polen weit vorn, aber auch umgekehrt hat sich Polen in Deutschland mit einer Investitionssumme von zwei Milliarden Euro einen Namen gemacht.
Hinderungsgründe für die Wirtschaft gibt es allerdings auch, wenngleich, und das wurde von allen Gesprächsteilnehmern immer wieder betont, niemand ernsthaft an den Vorteilen des europäischen Binnenmarktes rütteln will. Allerdings ist die Flut von Gesetzen, insbesondere bei der Steuerregelung, die überbordende Bürokratie und der Zugang zu qualifizierten Arbeitskräften nicht ganz einfach. Auch bei der Berufsbildung stößt man immer wieder auf Hindernisse.
Der Außenhandelsexperte für Polen, Michael Kern, informierte außerdem über den ambitionierten Marowiecki-Plan der polnischen Regierung, der insgesamt 180 strategische Punkte enthält, die in den kommenden Jahren bewältigt werden sollen. Dazu gehört vor allem die E-Mobilität, die Schaffung eines Luftfahrt-Clusters, der flächendeckende Breitband-Ausbau, großzügige Förderung von Forschung und Entwicklung, die in Polen fast ausschließlich auf Universitäten und Institute beschränkt ist, die Förderung des Mittelstandes sowie von Start Ups. 3000 solcher technologieorientierter Unternehmen sollen entstehen. Dafür wird viel Geld in die Hand genommen, allerdings ausschließlich Zlotys, denn der Euro ist in Polen kein Thema.
Tschechien
800 Kilometer lang ist die gemeinsame Grenze zwischen Deutschland und Tschechien. Und ob in Bayern oder Sachsen, man merkt kaum noch etwas von dieser Trennlinie zwischen den Staaten, berichtet Bernard Bauer, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Außenhandelskammer in Tschechien.
Doch die politische Situation ist fragil. Gerade hat Tschechien gewählt und der populistische Wahlsieger Andrej Babiš der rechtskonservativen ANO-Partei ist ein Multimilliardär, dem 250 große Agrarunternehmen in Tschechien gehören. Er gilt als größter Investor des Landes und führt zahlreiche Unternehmen im Ausland, auch in Deutschland. Darunter in Sachsen-Anhalt eines der wichtigsten Unternehmen des Bundeslandes. 2002 bekamen die Stickstoffwerke Piesteritz bei Wittenberg neue Gesellschafter: das Schweizer Rohstoffhandelsunternehmen Ameropa Holding und die tschechische Agrofert-Gruppe übernahmen als Joint Venture sämtliche Anteile. Vier Jahre später übernahm der Agrofert-Konzern, dessen alleiniger Eigentümer der Großindustrielle und ehemalige tschechische Finanzminister Andrej Babiš ist, das SKW Piesteritz.
Noch ist die Regierungsbildung nicht abgeschlossen, aber ein deutlicher Rechtsruck der Tschechen ist nicht ausgeschlossen. Diese politische Ungewissheit, zusammen mit schwierigen steuerlichen Regelungen, einer unübersichtlichen öffentlichen Verwaltung und immer knapper werdenden Fachkräften hindern Investitionen in Tschechien. Dennoch: Immerhin 4000 deutsche Unternehmen sind dort aktiv. Die Automobilindustrie, erinnert sei nur an VW und Skoda, wächst rasant, so dass inzwischen die ersten Skoda-Superb-Modelle in Deutschland gebaut werden müssen, weil die Kapazitäten im Nachbarland ausgereizt sind.
Die Wirtschaft brummt in der Tschechischen Republik. Mit 3,2 Prozent gibt es die niedrigste Arbeitslosenquote in der gesamten Europäischen Union. Für dieses Jahr wird ein BIP-Wachstum von 4,7 Prozent erwartet, die Gehälter steigen rasant. In den letzten Monaten wuchsen die Durchschnittslöhne um 20 Prozent und der Fachkräfte-Arbeitsmarkt ist leergefegt.
Deutschland ist auch für Tschechien der wichtigste Handelspartner. Beim Außenwirtschaftsvolumen erwartet man eine Steigerung um fast sieben Prozent auf rund 82 Milliarden Euro. Apropos Euro: Auch in der tschechischen Nachbarrepublik hat man kein Interesse am Euro. Man kommt mit der Krone gut zurecht.