Für weite Teile der Politik in Deutschland ist Digitalität zum Mantra geworden, ja geradezu die wirtschaftliche Verheißung der Zukunft schlechthin, die mehr Arbeitsplätze, mehr Mobilität, mehr Wachstum verspricht. Da ist die Rede vom selbstfahrenden Auto, von Breitbandausbau, von Industrie 4.0, von der „Cloud“. Doch welche Punkte auf dieser digitalen Agenda lassen sich wirklich umsetzen? Und wie nimmt der Mittelstand diese Themen auf? Er hadert in weiten Teilen noch mit der Digitalität.
Zwangsläufig aber, da ist sich Professor Dr. Gerald Lembke von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg sicher, muss sich auch der Mittelstand mit dem Thema Digitalisierung beschäftigen. „Für jedes einzelne Unternehmen“, so Lembke, „sollte die Frage im Mittelpunkt stehen, ob Digitalität das Geschäft tatsächlich voranbringen kann, und was an welcher Stelle mit welchen Mitteln geschehen muss.“
Denn seit 15 Jahren jagt eine technologisch-digitale Neuerung die nächste – und bei vielen digitalen Spielereien stellte sich im Nachhinein heraus, dass sie nicht marktfähig war. Auch waren diverse deutsche Unternehmen bei digitalen Lösungen in den vergangenen Jahren durchaus erfolgreich, fanden aber auf dem Weltmarkt nur wenig Resonanz. Zudem haben sich – ziemlich rasch – Märkte entwickelt, die so nicht vorhersehbar waren, beispielsweise das Wachstum von Google oder die Dominanz von Facebook in den sozialen Netzen.
Mit Vollgas ins digitale Nirwana?
In Deutschland handeln derzeit Politik, Wirtschaft, Verbände und Lobbygruppen die Digitalisierung weitgehend planlos und aktionistisch als einzigen Silberstreif am Horizont, der Wirtschaft und Gesellschaft glücklich und erfolgreich machen kann. So fordern Politik und IT-Lobby unisono, auch den Mittelstand umgehend zu digitalisieren. Angeblich, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht zu verlieren, und in der Folge Steuereinnahmen und Sozialsysteme schon für die nächste Dekade zu sichern. Zwangsläufig würden – so lautet das Kalkül – neue Umsätze bei der Kreation und Implementierung digitaler Technologien generiert. Die Politik glaubt freudig, dies münze sich erneut und vermehrt in sprudelnde Steuereinnahmen um.
Ob diese Ziele allerdings alleine mit Digitalisierung erreicht werden können, ist eher fraglich. Es scheint eher so, als steuerten diese Lobby-Gruppen mit „Vollgas ins digitale Nirwana“, so Lembke. „Gerade der Mittelstand sollte die Digitalisierung nicht als revolutionären Prozess, sondern als vernunftgesteuerte Evolution verstehen.“ Daraus leitet sich eine der wichtigen Maßnahmen für den Mittelstand ab: Möglichkeiten anzubieten, mit denen der Kopf geöffnet und die Haltung reflektiert werden können. Denn heute muss darüber nachgedacht und diskutiert werden, welche konkreten Ziele jetzt und in Zukunft gesamtgesellschaftlich erreicht werden sollen. Dabei dürfe natürlich die Frage, wie auch mittelständische Geschäftsmodelle mit der Unterstützung digitaler Instrumenten funktionieren könnten, nicht außen vor bleiben.
Die Stimme der Digitalen Vernunft – statt lautstarker Euphorie
Diskussionen mit Geschäftsführern mittelständischer Unternehmer und die kürzlich erschienene Studie „Digitalisierung – Disruptiver Megatrend oder evolutionärer Treiber“ (Duale Hochschule Baden-Württemberg, Mannheim) zeigen, dass der Mittelstand mehrheitlich keine Revolution wünscht. Viele wollen nicht einfach ihre alten Geschäftsprozesse nur mit einem neuen Anstrich digitalisieren. Die meisten Unternehmer setzen eher auf Achtsamkeit, maßvolle Entwicklungen und Entschleunigung. Der Erfolg bestätigt sie momentan noch in ihrer Haltung. Trotzdem kommen sie mittelfristig nicht umhin zu prüfen, ob und wie sie ihre Produkte und Dienstleistungen evolutionär in künftige Geschäftsmodelle verwandeln, die den Kundenerwartungen in der digitalisierten Welt entsprechen.
Doch um Chancen sehen und ergreifen zu können, braucht es vor allem eine Stimme der Vernunft und keine blinde Euphorie. Notwendig sei eine pragmatische Haltung mit weniger Aktionismus und mehr Verstand, so Lembke. Denn nicht bei jedem Mittelständler hängt das Überleben heute und in Zukunft an digitalen Prozessen. Andererseits ist mit der digitalen Agenda eine notwendige Debatte angestoßen worden, die den Druck auf den Mittelstand erhöht. Wird dieser jedoch zu stark, dann erzeugt er Ängste – statt zum weiteren Nachdenken zu bewegen.
Digitale Zukunft ist möglich – aber nicht zwingend erforderlich
Durchaus könnte gerade der Mittelstand die führende Rolle in einer „Digitalen Evolution“ übernehmen, davon ist Lembke überzeugt. Der momentane Fokus der Digitalisierung auf Großkonzerne überfordert mittelständische Unternehmen, weil Konzerne Digitalität völlig anders verstehen und umsetzen. Insgesamt braucht die Gesellschaft spätestens jetzt eine Debatte und dann einen Konsens darüber, wie sie in 20 Jahren leben und arbeiten möchte – und ob dies tatsächlich eine ganz und gar digital-automatisierte Gesellschaft und Wirtschaft sein soll.
Über Professor Lembke
Gerald Lembke ist Professor, Buchautor und Unternehmer für den Umgang mit Digitalen Medien in Wirtschaft und Gesellschaft. Er ist Präsident des „Bundesverbandes für Medien und Marketing“ (BVMM), einem aktiven Netzwerk für Digitalität in Marketing und Vertrieb. Er fördert den Austausch und die Vermittlung zwischen Digital Natives und Wirtschaft.