Ratlos und ohne Mut für neue Ideen

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Wie wird sich die Gesellschaft entwickeln?

Ganz allmählich, viel zu langsam, setzt sich in Deutschland und der Welt ein Gedanke durch: So wie jetzt, können wir nicht weitermachen. Politisch im Rückfall auf Nationalismus, Feindschaft und Kriege? Wirtschaftlich mit einem Wachstum ohne Rücksicht auf Verluste? Bei der Umwelt mit der Zerstörung der Lebensgrundlagen künftiger Generationen?
Nicht nur Umdenken, sondern anders denken, ist notwendig. Doch wie?

„Think Big“ ist so ein Schlagwort, von dem eigentlich heute keiner mehr weiß, wie es entstanden ist. Es bezeichnet eine in den 1980er Jahren in Neuseeland aus der Not heraus geborene Wirtschaftsstrategie. Unter dem Begriff „Gelenkte Volkswirtschaft“ versuchte der Pazifikstaat, dessen Wirtschaft größtenteils vom Staat bestimmt wurde, einer nationalen Wirtschaftskrise entgegenzuwirken, die durch die erste und zweite Ölkrise in den 1970er Jahren entstanden war. Riesige staatliche Industriebetriebe und Energieerzeugungs-Anlagen wurden gebaut. Das Ganze war fast wie ein bisschen Sozialismus. Doch dann fiel der Ölpreis, manches wurde unwirtschaftlich, man stellte die Sache ein. Heute jedoch sind die damals entstandenen Unternehmen hochprofitabel.

Randbemerkung der Geschichte: Mit ein Grund der Krise Neuseelands war, dass Großbritannien, zweitgrößter Handelspartner Neuseelands, in die EU eingetreten war.

Doch zurück zu „Think Big“. Heute versteht man darunter eher visionäre Projekte oder auch Gesellschaftsmodelle, die nicht am Heute und Morgen kleben, sondern weit in die Zukunft im Sinne der Erhaltung einer lebenswerten Welt hinein wirken. Nachhaltigkeit heißt das heute, was nichts anderes bedeutet.

Wer das ernst nimmt, der muss heute damit beginnen. Robert Jungk, Zukunftsdenker und Erfinder von Zukunftswerkstätten, schrieb 1952: „Das Morgen ist schon im Heute vorhanden, aber es maskiert sich noch als harmlos, es tarnt und entlarvt sich hinter dem Gewohnten. Die Zukunft ist keine sauber von der jeweiligen Gegenwart abgelöste Utopie: die Zukunft hat schon begonnen. Aber noch kann sie, wenn rechtzeitig erkannt, verändert werden.“ 

Das sind kluge Worte des in Berlin geborenen und in Salzburg gestorbenen ersten Zukunftsforschers und Publizisten, der mit dem Alternativen Nobelpreis geehrt wurde.

Betrachtet man hingegen unsere Gegenwart, dann kommt man zwangsläufig zu der Überzeugung, dass diese Worte längst vergessen sind.

Politiker beispielsweise sind da in der Pflicht. Immerhin bedeutet Politik die Regelung der Angelegenheiten eines Gemeinwesens durch verbindliche Entscheidungen. Was in dieser Wikipedia-Definition fehlt, ist die Verpflichtung, dass diese Regelungen und Entscheidungen auf das Wohl und die Entwicklung dieses Gemeinwesens gerichtet sein sollten. Mit anderen Worten: Es ist Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen für eine solche gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen. Dazu bedarf es allerdings einer Vision, einer Zielrichtung, die weit über das tägliche Verwalten hinausgeht, auf das Wohl künftiger Generationen zielt.

Mag jeder für sich selbst beurteilen, ob die Politiker von heute, ganz ohne Ausnahme, davon beseelt sind. Vielmehr hat es den Eindruck, dass es um die Verwaltung einer Gesellschaft, eines Gemeinwesens, geht, weniger um die Gestaltung der Zukunft. Und diese Verwaltung reicht gerade immer bis zur nächsten Wahl, also vier oder fünf Jahre voraus. Und weitaus wichtiger als gesellschaftliche Visionen, scheint der Machterhalt zu sein, um dann wieder zu verwalten.

Genau dieser Mechanismus ist vermutlich die eigentliche Ursache für Politikverdrossenheit, die häufig mit mangelnder Kommunikation erklärt wird, mit der nicht richtigen Erklärung der Entscheidungen. Wer ein klares Ziel vor Augen hat, wer ohne Wenn und Aber beschreiben kann, wohin sich die Gesellschaft entwickeln soll, selbst wenn die Wege dorthin noch längst nicht klar sind, der hat auch kein Problem, seine Entscheidungen zu erklären.

Tatsache ist aber, dass keine Partei, keine politische Strömung, derzeit ein tatsächlich gesellschaftsrelevantes Ziel für die Zukunft verfolgt. Die Absichtserklärung der allgemeinen Verbesserung der Lebensverhältnisse reicht dabei nicht.

Vor einiger Zeit hat aspekt bei einem Besuch in einer 10. Klasse einer Gesamtschule die Frage gestellt, wie man sich das Leben in Deutschland in 40 Jahren vorstelle. Die Schüler dürften dann den größten Teil ihres Berufslebens absolviert haben, also auch schon Kinder und Enkelkinder haben, für die sie dann Verantwortung trügen.

Die Antworten waren mehr als ernüchternd. Da gab es jede Menge technischer Zukunftsvisionen, von allumfassender Digitalisierung, von Robotern, von Flügen zu fernen Sternen, von einem Leben ohne Sorgen und materieller Not war die Rede. Aber nicht einer oder eine sprach von einem Gesellschaftsmodell, von Ressourcen, von der Rolle der Arbeit, von der Stellung des Einzelnen in der Gemeinschaft.

Das ist kein Vorwurf. Vermutlich haben wir alle, die heute so alt sind, wie diese Schüler in 40 Jahren, auch keine Vorstellung von der Gesellschaft gehabt, in der wir heute leben. Aber halt, das stimmt nicht. Zumindest uns ostdeutschen Jugendlichen war damals das Bild des weltumspannenden Kommunismus vermittelt worden, einer Welt ohne Ausbeutung, ohne Kriege, mit Wohlstand und Bildung für alle, auch für die ärmsten Länder auf allen Kontinenten. Es kam anders. Eine Vision, die vermutlich damals Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt im Kopf gehabt haben muss, als er meinte, dass jemand, der Visionen habe, zum Arzt gehen solle. Das war zynisch, und falsch auch noch.

Ein Schüler bei dem Besuch meinte, mit dem Flug und der Landung von Menschen auf dem Mond sei eine Vision, ein Menschheitstraum, erfüllt worden. Es gäbe also doch verwirklichte Zukunftsträume. Das ist richtig und doch nur die halbe Wahrheit. Denn eigentlich ging es um einen politischen Wettstreit, um Deutungshoheit zwischen zwei verfeindeten gesellschaftlichen Systemen, denen alles andere untergeordnet wurde. Der Flug zum Mond und die Landung dort 1969 war ein Himmelfahrtskommando, das nicht die Erfüllung eines Menschheitstraumes, sondern politisches Imponiergehabe zum Ziel hatte. Der Menschheitstraum wurde dabei so ganz nebenbei erfüllt.

Dabei gibt es Träume, deren Erfüllung real nicht mal ein Problem bedeuten würde.

Ein Beispiel. Derzeit rechnet man auf der Welt mit rund 800 Millionen Menschen, die Hunger leiden. Sie fallen unter die absolute Armutsgrenze von gut einem Euro pro Tag. Um den Hunger auf der Welt bis 2030 auszurotten, müssten jedes Jahr 239 Milliarden Euro zusätzlich investiert werden. Dies geht aus einem gemeinsamen Bericht dreier UN-Behörden hervor.

Die Europäische Zentralbank kaufte seit 2017 monatlich anfangs für 80 Milliarden Euro, später monatlich für 60 Milliarden Euro, faule Kredite und Staatspapiere von europäischen „leidenden“ Banken auf. Bis Herbst letzten Jahres waren das 2,6 Billionen Euro. Einziges Ziel: die Stabilität des Euros nicht durch zusammenbrechende Banken zu gefährden.

2,6 Billionen Euro – damit hätte man fast elfmal den Hunger auf der Welt beseitigen können. Groß denken? Fehlanzeige.

Was für die Welt gilt, ist im Kleinen nicht besser.

In der vorigen Ausgabe haben wir über das Modell des für die Nutzer kostenlosen Öffentlichen Nahverkehrs berichtet. Etliche europäische Städte haben das bereits verwirklicht.

Selbst in Deutschland hat man es versucht, aber wieder aufgegeben. Zu teuer. Zu teuer?

Bei den Magdeburger Verkehrsbetrieben wollte man sich nicht festlegen. So um die 20 bis 30 Millionen würde das die Stadt zusätzlich kosten. Betrachtet man nur die Kostensteigerung beim Tunnelbau in der Landeshauptstadt am Hauptbahnhof, dann könnte man die locker aufbringen. Und mit dem Rückgang des privaten Autoverkehrs wäre ja vielleicht sogar der ganze Tunnel überflüssig geworden. Eine Vision? Wären die Stadtväter vor mehr als 100 Jahren beim Bau der Magdeburger Kanalisation ebenso zögerlich und sparsam gewesen, dürfte Magdeburg heute im Abwasser untergehen.

Zugegeben, zu dieser Zeit gab es auch durch das Wachsen der Bevölkerungszahl einen enormen Druck auf die handelnden Politiker. Es ist nicht auszuschließen, dass es eines solchen gesellschaftlichen Drucks bedarf, um Veränderungen auch in Richtung Zukunft herbeizuführen.

Mit der Digitalisierung ist eine solche gesellschaftliche Veränderung eingetreten, die vermutlich nur mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts zu vergleichen ist. Sie wird das Leben der Menschen, die Wirtschaft, die Kultur, alle Lebensbereiche umgestalten. Sicher ist in solchen Zeiten nur, dass nichts so bleiben wird, wie es war. Und das genau ist der Ansatzpunkt, um die Weichen für die künftige Entwicklung zu stellen. In Zeiten solcher Umbrüche sind klare Zielstellungen die einzig mögliche Orientierung. Doch genau daran mangelt es. Wer also ist in der Lage, solche Visionen mit dem notwendigen wissenschaftlichen und intellektuellen Hintergrund zu entwickeln?

Der Club of Rome ist eine solche Einrichtung, das jährliche Treffen von Wirtschafts- und Staatsführern in Davos eignet sich dafür, und auch die Leopoldina. Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina ist seit 2008 die Nationale Akademie der Wissenschaften. Sie bearbeitet unabhängig von wirtschaftlichen oder politischen Interessen wichtige gesellschaftliche Zukunftsthemen aus wissenschaftlicher Sicht, vermittelt die Ergebnisse der Politik und der Öffentlichkeit und vertritt diese Themen national wie international. Von hier müssten jetzt die Themen, die Skizzierung der Entwicklungslinien kommen, die der Politik die Möglichkeit bieten, tatsächlich nachhaltig zu gestalten, statt zu verwalten. Doch von der Leopoldina ist gegenwärtig nur wenig zu hören. Außerdem hat es den Anschein, dass ihr Einfluss auf die politisch Handelnden, das Gewicht ihrer Aussagen, nur bedingt bis in die Berliner Machstuben vordringt. Auch ergibt sich die Frage, ob angesichts der globalen Dimension der Veränderungen durch die Digitalisierung nicht auch die Europäische Union ein Gremium bräuchte, das diese Beratungsfunktion wahrnimmt.

Der Club of Rome würde sich dafür eignen. Er ist ein Zusammenschluss von Experten verschiedener Disziplinen aus mehr als 30 Ländern und wurde 1968 gegründet. Die gemeinnützige Organisation setzt sich für eine nachhaltige Zukunft der Menschheit ein. Mit dem 1972 veröffentlichten Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ erlangte er große weltweite Beachtung. Seitdem kämpft der Club of Rome für nachhaltige Entwicklung und setzt sich für den Schutz von Ökosystemen ein. Seit 2008 hat die Organisation ihren Sitz in der Schweiz. Wohlgemerkt, das war 1972, also vor 47 Jahren. So sehr der Club of Rome damals äußerst weitsichtig seine Empfehlungen veröffentlicht hat, so still ist es in den Jahrzehnten um ihn geworden. Sollten sich angesichts der enormen Geschwindigkeit der Entwicklung innerhalb von fast einem halben Jahrhundert keine weiteren grundsätzlichen Zukunftserkenntnisse ergeben haben? Es hat fast den Anschein, als ob auch den großen Geistern dieser Welt die Ratlosigkeit in die Stammbücher geschrieben ist.

Und um bei großen Geistern zu bleiben: Davos ist das Spielfeld der „Macher“, ob in der Politik oder der Wirtschaft. Hier melden sich die Google-, Facebook- oder Tesla-Gründer, um ihre Visionen zu verkünden, denen die Politik-Granden mit Staunen lauschen. 2017 hielt Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping die Eröffnungsrede beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Darin versprach er freien Handel. Doch tatsächlich ist das bevölkerungsreichste Land der Welt heute wirtschaftlich und politisch noch unfreier als zuvor. Die Enttäuschung der europäischen Wirtschaft ist deutlich zu spüren, aber hinter den Worten des chinesischen Parteichefs steht eine Strategie. Die Weltwirtschaft ruhig halten und gleichzeitig einen Kurs der Ressourcensicherung in Afrika und anderswo, ebenso wie einen rasanten wissenschaftlichen und industriellen Steilflug organisieren. Dabei macht das Land der Mitte gar kein Geheimnis aus dem Projekt der „Neuen Seidenstraße“. Das Ziel ist klar. China will und wird die führende Wirtschaftsmacht der Welt werden, früher oder später. Daran werden die USA und Europa nichts ändern, weil man hier wie dort keine Ideen, keine Visionen, keine Zielstellungen für die eigene Entwicklung hat.

„Think Big“ hat man in China verstanden, wenngleich damit eine beängstigende politische Entwicklung einhergeht. Eine Antwort aus Europa ist bislang ausgeblieben.

weiß, wie es entstanden ist. Es bezeichnet eine in den 1980er Jahren in Neuseeland aus der Not heraus geborene Wirtschaftsstrategie. Unter dem Begriff „Gelenkte Volkswirtschaft“ versuchte der Pazifikstaat, dessen Wirtschaft größtenteils vom Staat bestimmt wurde, einer nationalen Wirtschaftskrise entgegenzuwirken, die durch die erste und zweite Ölkrise in den 1970er Jahren entstanden war. Riesige staatliche Industriebetriebe und Energieerzeugungs-Anlagen wurden gebaut. Das Ganze war fast wie ein bisschen Sozialismus. Doch dann fiel der Ölpreis, manches wurde unwirtschaftlich, man stellte die Sache ein. Heute jedoch sind die damals entstandenen Unternehmen hochprofitabel.

Randbemerkung der Geschichte: Mit ein Grund der Krise Neuseelands war, dass Großbritannien, zweitgrößter Handelspartner Neuseelands, in die EU eingetreten war.

Doch zurück zu „Think Big“. Heute versteht man darunter eher visionäre Projekte oder auch Gesellschaftsmodelle, die nicht am Heute und Morgen kleben, sondern weit in die Zukunft im Sinne der Erhaltung einer lebenswerten Welt hinein wirken. Nachhaltigkeit heißt das heute, was nichts anderes bedeutet.

Wer das ernst nimmt, der muss heute damit beginnen. Robert Jungk, Zukunftsdenker und Erfinder von Zukunftswerkstätten, schrieb 1952: „Das Morgen ist schon im Heute vorhanden, aber es maskiert sich noch als harmlos, es tarnt und entlarvt sich hinter dem Gewohnten. Die Zukunft ist keine sauber von der jeweiligen Gegenwart abgelöste Utopie: die Zukunft hat schon begonnen. Aber noch kann sie, wenn rechtzeitig erkannt, verändert werden.“ 

Das sind kluge Worte des in Berlin geborenen und in Salzburg gestorbenen ersten Zukunftsforschers und Publizisten, der mit dem Alternativen Nobelpreis geehrt wurde.

Betrachtet man hingegen unsere Gegenwart, dann kommt man zwangsläufig zu der Überzeugung, dass diese Worte längst vergessen sind.

Politiker beispielsweise sind da in der Pflicht. Immerhin bedeutet Politik die Regelung der Angelegenheiten eines Gemeinwesens durch verbindliche Entscheidungen. Was in dieser Wikipedia-Definition fehlt, ist die Verpflichtung, dass diese Regelungen und Entscheidungen auf das Wohl und die Entwicklung dieses Gemeinwesens gerichtet sein sollten. Mit anderen Worten: Es ist Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen für eine solche gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen. Dazu bedarf es allerdings einer Vision, einer Zielrichtung, die weit über das tägliche Verwalten hinausgeht, auf das Wohl künftiger Generationen zielt.

Mag jeder für sich selbst beurteilen, ob die Politiker von heute, ganz ohne Ausnahme, davon beseelt sind. Vielmehr hat es den Eindruck, dass es um die Verwaltung einer Gesellschaft, eines Gemeinwesens, geht, weniger um die Gestaltung der Zukunft. Und diese Verwaltung reicht gerade immer bis zur nächsten Wahl, also vier oder fünf Jahre voraus. Und weitaus wichtiger als gesellschaftliche Visionen, scheint der Machterhalt zu sein, um dann wieder zu verwalten.

Genau dieser Mechanismus ist vermutlich die eigentliche Ursache für Politikverdrossenheit, die häufig mit mangelnder Kommunikation erklärt wird, mit der nicht richtigen Erklärung der Entscheidungen. Wer ein klares Ziel vor Augen hat, wer ohne Wenn und Aber beschreiben kann, wohin sich die Gesellschaft entwickeln soll, selbst wenn die Wege dorthin noch längst nicht klar sind, der hat auch kein Problem, seine Entscheidungen zu erklären.

Tatsache ist aber, dass keine Partei, keine politische Strömung, derzeit ein tatsächlich gesellschaftsrelevantes Ziel für die Zukunft verfolgt. Die Absichtserklärung der allgemeinen Verbesserung der Lebensverhältnisse reicht dabei nicht.

Vor einiger Zeit hat aspekt bei einem Besuch in einer 10. Klasse einer Gesamtschule die Frage gestellt, wie man sich das Leben in Deutschland in 40 Jahren vorstelle. Die Schüler dürften dann den größten Teil ihres Berufslebens absolviert haben, also auch schon Kinder und Enkelkinder haben, für die sie dann Verantwortung trügen.

Die Antworten waren mehr als ernüchternd. Da gab es jede Menge technischer Zukunftsvisionen, von allumfassender Digitalisierung, von Robotern, von Flügen zu fernen Sternen, von einem Leben ohne Sorgen und materieller Not war die Rede. Aber nicht einer oder eine sprach von einem Gesellschaftsmodell, von Ressourcen, von der Rolle der Arbeit, von der Stellung des Einzelnen in der Gemeinschaft.

Das ist kein Vorwurf. Vermutlich haben wir alle, die heute so alt sind, wie diese Schüler in 40 Jahren, auch keine Vorstellung von der Gesellschaft gehabt, in der wir heute leben. Aber halt, das stimmt nicht. Zumindest uns ostdeutschen Jugendlichen war damals das Bild des weltumspannenden Kommunismus vermittelt worden, einer Welt ohne Ausbeutung, ohne Kriege, mit Wohlstand und Bildung für alle, auch für die ärmsten Länder auf allen Kontinenten. Es kam anders. Eine Vision, die vermutlich damals Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt im Kopf gehabt haben muss, als er meinte, dass jemand, der Visionen habe, zum Arzt gehen solle. Das war zynisch, und falsch auch noch.

Ein Schüler bei dem Besuch meinte, mit dem Flug und der Landung von Menschen auf dem Mond sei eine Vision, ein Menschheitstraum, erfüllt worden. Es gäbe also doch verwirklichte Zukunftsträume. Das ist richtig und doch nur die halbe Wahrheit. Denn eigentlich ging es um einen politischen Wettstreit, um Deutungshoheit zwischen zwei verfeindeten gesellschaftlichen Systemen, denen alles andere untergeordnet wurde. Der Flug zum Mond und die Landung dort 1969 war ein Himmelfahrtskommando, das nicht die Erfüllung eines Menschheitstraumes, sondern politisches Imponiergehabe zum Ziel hatte. Der Menschheitstraum wurde dabei so ganz nebenbei erfüllt.

Dabei gibt es Träume, deren Erfüllung real nicht mal ein Problem bedeuten würde.

Ein Beispiel. Derzeit rechnet man auf der Welt mit rund 800 Millionen Menschen, die Hunger leiden. Sie fallen unter die absolute Armutsgrenze von gut einem Euro pro Tag. Um den Hunger auf der Welt bis 2030 auszurotten, müssten jedes Jahr 239 Milliarden Euro zusätzlich investiert werden. Dies geht aus einem gemeinsamen Bericht dreier UN-Behörden hervor.

Die Europäische Zentralbank kaufte seit 2017 monatlich anfangs für 80 Milliarden Euro, später monatlich für 60 Milliarden Euro, faule Kredite und Staatspapiere von europäischen „leidenden“ Banken auf. Bis Herbst letzten Jahres waren das 2,6 Billionen Euro. Einziges Ziel: die Stabilität des Euros nicht durch zusammenbrechende Banken zu gefährden.

2,6 Billionen Euro – damit hätte man fast elfmal den Hunger auf der Welt beseitigen können. Groß denken? Fehlanzeige.

Was für die Welt gilt, ist im Kleinen nicht besser.

In der vorigen Ausgabe haben wir über das Modell des für die Nutzer kostenlosen Öffentlichen Nahverkehrs berichtet. Etliche europäische Städte haben das bereits verwirklicht.

Selbst in Deutschland hat man es versucht, aber wieder aufgegeben. Zu teuer. Zu teuer?

Bei den Magdeburger Verkehrsbetrieben wollte man sich nicht festlegen. So um die 20 bis 30 Millionen würde das die Stadt zusätzlich kosten. Betrachtet man nur die Kostensteigerung beim Tunnelbau in der Landeshauptstadt am Hauptbahnhof, dann könnte man die locker aufbringen. Und mit dem Rückgang des privaten Autoverkehrs wäre ja vielleicht sogar der ganze Tunnel überflüssig geworden. Eine Vision? Wären die Stadtväter vor mehr als 100 Jahren beim Bau der Magdeburger Kanalisation ebenso zögerlich und sparsam gewesen, dürfte Magdeburg heute im Abwasser untergehen.

Zugegeben, zu dieser Zeit gab es auch durch das Wachsen der Bevölkerungszahl einen enormen Druck auf die handelnden Politiker. Es ist nicht auszuschließen, dass es eines solchen gesellschaftlichen Drucks bedarf, um Veränderungen auch in Richtung Zukunft herbeizuführen.

Mit der Digitalisierung ist eine solche gesellschaftliche Veränderung eingetreten, die vermutlich nur mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts zu vergleichen ist. Sie wird das Leben der Menschen, die Wirtschaft, die Kultur, alle Lebensbereiche umgestalten. Sicher ist in solchen Zeiten nur, dass nichts so bleiben wird, wie es war. Und das genau ist der Ansatzpunkt, um die Weichen für die künftige Entwicklung zu stellen. In Zeiten solcher Umbrüche sind klare Zielstellungen die einzig mögliche Orientierung. Doch genau daran mangelt es. Wer also ist in der Lage, solche Visionen mit dem notwendigen wissenschaftlichen und intellektuellen Hintergrund zu entwickeln?

Der Club of Rome ist eine solche Einrichtung, das jährliche Treffen von Wirtschafts- und Staatsführern in Davos eignet sich dafür, und auch die Leopoldina. Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina ist seit 2008 die Nationale Akademie der Wissenschaften. Sie bearbeitet unabhängig von wirtschaftlichen oder politischen Interessen wichtige gesellschaftliche Zukunftsthemen aus wissenschaftlicher Sicht, vermittelt die Ergebnisse der Politik und der Öffentlichkeit und vertritt diese Themen national wie international. Von hier müssten jetzt die Themen, die Skizzierung der Entwicklungslinien kommen, die der Politik die Möglichkeit bieten, tatsächlich nachhaltig zu gestalten, statt zu verwalten. Doch von der Leopoldina ist gegenwärtig nur wenig zu hören. Außerdem hat es den Anschein, dass ihr Einfluss auf die politisch Handelnden, das Gewicht ihrer Aussagen, nur bedingt bis in die Berliner Machstuben vordringt. Auch ergibt sich die Frage, ob angesichts der globalen Dimension der Veränderungen durch die Digitalisierung nicht auch die Europäische Union ein Gremium bräuchte, das diese Beratungsfunktion wahrnimmt.

Der Club of Rome würde sich dafür eignen. Er ist ein Zusammenschluss von Experten verschiedener Disziplinen aus mehr als 30 Ländern und wurde 1968 gegründet. Die gemeinnützige Organisation setzt sich für eine nachhaltige Zukunft der Menschheit ein. Mit dem 1972 veröffentlichten Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ erlangte er große weltweite Beachtung. Seitdem kämpft der Club of Rome für nachhaltige Entwicklung und setzt sich für den Schutz von Ökosystemen ein. Seit 2008 hat die Organisation ihren Sitz in der Schweiz. Wohlgemerkt, das war 1972, also vor 47 Jahren. So sehr der Club of Rome damals äußerst weitsichtig seine Empfehlungen veröffentlicht hat, so still ist es in den Jahrzehnten um ihn geworden. Sollten sich angesichts der enormen Geschwindigkeit der Entwicklung innerhalb von fast einem halben Jahrhundert keine weiteren grundsätzlichen Zukunftserkenntnisse ergeben haben? Es hat fast den Anschein, als ob auch den großen Geistern dieser Welt die Ratlosigkeit in die Stammbücher geschrieben ist.

Und um bei großen Geistern zu bleiben: Davos ist das Spielfeld der „Macher“, ob in der Politik oder der Wirtschaft. Hier melden sich die Google-, Facebook- oder Tesla-Gründer, um ihre Visionen zu verkünden, denen die Politik-Granden mit Staunen lauschen. 2017 hielt Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping die Eröffnungsrede beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Darin versprach er freien Handel. Doch tatsächlich ist das bevölkerungsreichste Land der Welt heute wirtschaftlich und politisch noch unfreier als zuvor. Die Enttäuschung der europäischen Wirtschaft ist deutlich zu spüren, aber hinter den Worten des chinesischen Parteichefs steht eine Strategie. Die Weltwirtschaft ruhig halten und gleichzeitig einen Kurs der Ressourcensicherung in Afrika und anderswo, ebenso wie einen rasanten wissenschaftlichen und industriellen Steilflug organisieren. Dabei macht das Land der Mitte gar kein Geheimnis aus dem Projekt der „Neuen Seidenstraße“. Das Ziel ist klar. China will und wird die führende Wirtschaftsmacht der Welt werden, früher oder später. Daran werden die USA und Europa nichts ändern, weil man hier wie dort keine Ideen, keine Visionen, keine Zielstellungen für die eigene Entwicklung hat.

„Think Big“ hat man in China verstanden, wenngleich damit eine beängstigende politische Entwicklung einhergeht. Eine Antwort aus Europa ist bislang ausgeblieben.