Grünblättrige Mitbewohner

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„War das heute wieder ein Stress.“ Diesen Satz hört man häufig am Ende eines Arbeitstages, nach einem nervenzermürbenden Einkauf oder irgendeiner Auseinandersetzung mit den üblichen trivialen Dingen des Alltags. Wohl kaum jemand ist dabei schon mal auf den Gedanken gekommen, dass auch die Pflanzen im Büro, die Blumen auf der Wiese oder das Getreide auf dem Acker Stress haben könnte. Natürlich nicht, denn niemand hat sie je klagen gehört.

Dabei können Pflanzen durchaus Stress haben. Wenn sie beispielsweise zu wenig Wasser bekommen, die Sonne unbarmherzig brennt, oder der Kampf gegen Schädlinge und Krankheiten geführt werden muss. In Halle an der Saale gibt es ein Institut, dass diesen Stress untersucht. Und dort hat man jetzt eine Entdeckung gemacht, die nicht nur absolut sensationell ist, sondern auch mein Verhältnis zu Pflanzen völlig verändert hat. Die Biologen haben herausgefunden, dass bei der embryonalen Entwicklung der Wirbeltiere, also beispielsweise dem Menschen, und der Pflanzen rein genetisch die gleichen Mechanismen wirken. Und zwar werden von der Befruchtung der ersten Zellen bis zum Baby oder einer jungen Pflanze in exakt der gleichen Reihenfolge bestimmte Gene „an- oder abgeschaltet“, die dann zum Endergebnis führen.

Diese Erklärung ist wahrscheinlich völlig unwissenschaftlich, und ich sehe schon, wie ein nachdenklicher Typ mit wirrem Kraushaar und weißem Kittel langsam die Brille abnimmt, den Bügel leicht kauend zwischen die Lippen nimmt und sagt: „Ganz so ist das nicht.“ Natürlich, das weiß ich auch, aber das Prinzip, das Prinzip stimmt.

Wenn dem so ist, wieso soll es dann zwischen den Pflanzen und den Wirbeltieren nicht einen gemeinsamen Ursprung geben? Und wenn das stimmt, dann sind meine Zimmerpflanzen nicht nur irgendwie Zimmerpflanzen, sondern Mitbewohner. Sie sind nicht nur Dekoration, sondern haben eigene Bedürfnisse, auch das auf Beachtung. Seitdem rede ich mit meinen Pflanzen. Täglich erkundige ich mich nach ihrem Befinden, und selbst, wenn sie nicht antworten, bin ich sicher, dass sie mich verstehen. Und von wegen nicht antworten!

Zwei der gleichen Art, die man oft Palmen nennt, was sie aber nicht sind und deren Namen mir nicht einfällt, haben sich sehr unterschiedlich entwickelt. Während die eine an ihrem Platz vor Kraft strotzt, „mickert“ die andere nur herum. Ich habe mit ihr ein ausführliches Gespräch geführt und beide zusammengestellt. Das Ergebnis war verblüffend. Jetzt wetteifern sie, wer die Schönste ist.

Allerdings ist das Ganze eine schlechte Nachricht für Vegetarier. Bei allem Verständnis muss man die Möhrenkauer jetzt auf einer Stufe mit den das Fleisch von Wirbeltieren verzehrenden Barbaren sehen, die sich Schnitzel und Steaks einverleiben. Mehr noch. Nachdem ich auf einem Feld mit ansehen musste, wie unsere Mitbewohner Halm für Halm in Reih und Glied vegetierend (jetzt weiß ich, wo das Wort Vegetation herkommt), brutal von einer Riesenmaschine massenhaft massakriert wurden, bleibt mir jedes Brötchen im Halse stecken.

Schwierig wird die Einordnung der grünblättrigen Nachbarn lediglich bei den so genannten fleischfressenden Pflanzen. Vermutlich ist es so eine Art militanter Vorhut, die uns begreiflich machen will, dass es auch mal andersherum kommen kann.

Wenn es dann soweit ist, so hoffe ich, dass meine Grünpflanzen bei mir zu Hause diese Zeilen verinnerlicht haben, sich daran erinnern, dass ich sie verstanden habe und mich verschonen. Aber sicher sein kann man natürlich nicht.

 

roschflor