Herzzerreißendes und dekadentes Spiel um Liebe und Hass

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Verdis Oper „La Traviata“ eignet sich wie kaum ein anderes Musikstück zum Auftakt einer neuen Spielzeit. Die Musik bietet alles, was ein Genie wie Verdi komponieren konnte, Arien und Duette zum Dahinschmelzen, gewaltige Chorszenen, die einem Gänsehautschauer über den Rücken laufen lassen. Das Libretto hat darüber hinaus ebenfalls alles, was ein Erfolgsstück ausmacht – Liebe, Hass, Schmerz, Glück, Leid und Tod. Was für eine Oper also sollte sich besser eignen, um die Spielzeit 2010/2011 im Opernhaus in Magdeburg zu eröffnen?


Langanhaltender donnernder Applaus, Bravorufe, etliche Vorhänge, Begeisterung pur – das alles bestätigte dann auch die Entscheidung, in Magdeburg mit „La Traviata“ mit einem Paukenschlag die Opernsaison zu eröffnen. Was im Unterton ein wenig nach Kalkül klingt, wurde dann aber spätestens durch eine von der sängerischen wie schauspielerischen Ausstrahlung unglaublich guten Hale Soner ad absurdum geführt. Sie spielte und sang sich nicht nur in die Herzen des Publikums, sondern zerriss sie zwischen Liebe und Leid, zwischen Hoffnung und Glück, zwischen Stolz und Demütigung. Hier saßen nicht Zuschauer im Parkett, die das Geschehen verfolgten, sondern die mit ihr litten, ihren Schmerz fühlten. Eine solche Präsenz der Violetta, der Kurtisane aus Paris, die todkrank endlich die große Liebe findet, um dann zum Verzicht gezwungen zu werden und in den Armen des Geliebten stirbt, war selten in einer Inszenierung von „La Traviata“ zu spüren. Diese Rolle ist ihr auf den Leib geschrieben.  Die gebürtige Istanbulerin Hale Soner begann ihre Gesangsausbildung am Staatlichen Konservatorium der Mimar-Sinan-Universität. Vor sieben Jahren schloss sie die Ausbildung dort ab und war seither auf zahlreichen internationalen Bühnen erfolgreich unterwegs. Seit Beginn der Spielzeit 2009/2010 ist sie Ensemblemitglied des Theater Magdeburg und hier u. a. als Donna Anna in „Don Giovanni“ und Eurydike in „Orpheus in der Unterwelt“ zu hören. Die zweite große Rolle in diesem Liebesdrama hat Ilja Werger übernommen. Der Tenor wurde 1980 in Tscheljabinsk (Russland) geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Ab 2001 studierte er Schulmusik mit Hauptfach Geige und Leistungsfach Gesang in Mannheim. Mit der Rolle des Alfredo als erstem Engagement in einem festen Ensemble eines großen Theaters beginnt für ihn ein neuer künstlerischer Abschnitt, denn er allerdings mit einem fulminanten Einstieg begann. Man darf auf seine weiteren Rollen als Tenor sehr gespannt sein.

So sehr das dramatische Geschehen auf der Bühne die Herzen eroberte, so feinfühlig vermochte die Inszenierung von Stephen Lawless gerade in den Festszenen immer wieder die Distanz zu schaffen,  auf die es auch Verdi bei der Komposition nach dem Stoff der „Kameliendame“ ankam. Die Darstellung der Dekadenz einer untergehenden Gesellschaft, auch die Krankheit und der Tod der Kurtisane sind Synonym dafür, rief bereits 1853, dem Jahr der Uraufführung in Venedig, die Zensur auf den Plan. Die Handlung musste in die Zeit von Ludwig dem XIV. zurück verlegt werden, was schon anschaulich macht, wie sehr Verdi und Dumas den Nerv der Zeit getroffen hatten. Und genau dieses Kunststück hat Stephen Lawless geschafft: Bei aller herzergreifenden, scheinbar jeden weiteren Gedanken begrabenden Fülle von Emotionen, das abstoßende, dekadente, oberflächliche und brutale langsame Sterben einer sich selbst überlebten Gesellschaft herauszuarbeiten. Damit erreicht das Stück ungeheure Aktualität, wobei Lawless mit kleinen, beinahe beiläufigen Details, genau dies prägnant macht, ohne auch nur eine Rührungsträne zu verletzen. Das war in der Tat meisterhaft.

Unterstützt wurde er dabei von einer Bühnenausstattung (Bühne Benoit Dugardyn, Kostüme Sue Willmington), die genau diese Intentionen aufgriff und die Aussage verdichtete.

Was wäre „La Traviata“ ohne die grandiosen Chorszenen. Martin Wagner stellte wieder einmal unter Beweis, dass seine Choreinstudierungen weit mehr als der gesanglich voluminöse Hintergrund für die Protagonisten sind. Sie bilden einen hervorragenden eigenständigen Part, ohne die Gesamtheit des musikalischen Geschehens zu dominieren. Das nämlich blieb Michael Lloyd vorbehalten, der erneut Taktstock und Musiker bestens im Griff hatte und so seinen Beitrag zu einer Operninszenierung leistete, die gleich zu Beginn der Spielzeit Maßstäbe setzte.