Wenn aus Cents Millionen werden…




Kopfschütteln, Skepsis, Empörung und Begeisterung – all dem begegnet man an den Kassen beispielsweise von Kaufland, Netto, Penny oder Toom-Baumärkten. Sie alle sowie weitere Ketten beteiligen sich an der deutschlandweiten Aktion „Deutschland-rundet-auf“. Eine „krumme“ Summe kann vom Kunden bis auf maximal zehn Cent aufgerundet werden. Der Betrag – exakt auf dem Bon ausgewiesen – wird über eine Stiftung sozialen Zwecken zugeführt, so die Initiatoren.
Doch auch skeptische Stimmen sind zu hören. Wer sind die Initiatoren? Wer wählt die Projekte aus? Wer steht hinter der Stiftung?
Sicher dürfte sein: Es geht um Millionen, eingesammelt Cent für Cent in derzeit 12 000 Filialen und annähernd 30 000 Kassen. Und ihre Zahl vergrößert sich täglich.
aspekt hat versucht, der Sache auf den Grund zu gehen.

„Weil wir nur gemeinsam die Probleme unserer Gesellschaft lösen können“. Davon ist der Gründer und Geschäftsführer der Spendenorganisation „Deutschland rundet auf“ Christian Vater überzeugt und sorgt mit einer riesigen Medienkampagne und Fernsehwerbung dafür, dass die Cents an den Kassen der Supermärkte fleißig „fließen“.

Doch die Aktion ruft nicht nur Begeisterung hervor. Etliche Kunden empören sich gar über eine Abzock-Masche, obwohl die Aufrundung auf Zehn-Cent-Beträge freiwillig ist. Bei der Verbraucherzentrale Sachsen-Anhalt wusste man gleich gar nichts von der bundesweiten Aktion an 33 000 Kassen und riet erst einmal zur Vorsicht. Der Kunde solle genau prüfen, an wen das Geld geht und im Zweifelsfall lieber die Herausgabe auch des letzten Cents verlangen.
Wer hat die Sache ins Leben gerufen? Von wem werden die Gelder verwaltet? Wieviel kommt da überhaupt zusammen? Wie ist es mit der Transparenz der Verwendung? Fragen über Fragen, mit denen auch die Verbraucherzentrale erst einmal nichts anfangen konnte.
„Deutschland rundet auf“ wurde im März als gemeinnützige Organisation ins Leben gerufen. Gegründet als Stiftung, ist sie Mitglied des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen und fördert gemeinnützige Spendenprojekte, die sich mit aktuellen Problemen der Gesellschaft befassen und mindestens auf regionaler Ebene bereits erfolgreich waren. Jedes dieser Spendenprojekte hat einen festen Finanzierungsbedarf, der zwischen 100 000 Euro und
300 000 Euro liegt. Erst wenn das Spendenziel erreicht ist, beginnt ein neues.
Das hört sich alles sehr seriös an und dennoch bleiben Fragen offen. Wer wählt die Projekte aus, nach welchen Kriterien? Wer ist Christian Vater? Was sind seine Motive?
Vater ist ein Musikmanager, der auf eine abwechslungsreiche Karriere im internationalen Musikgeschäft zurückblicken kann. Nach einem BWL- und Managementstudium in London arbeitete er in den vergangenen Jahren u. a. als Vorstandsassistent beim Europapräsidenten von EMI Music. Hier verantwortete er als European Marketing Manager die Koordination der Marketingaktivitäten für EMIs internationale Topkünstler. 2004 wechselte er als Director of Business Development zur Künstlermanagementfirma IE Music in London, die etwa Robbie Williams betreut. Noch im gleichen Jahr gründete er in Berlin die Künstlermanagementfirma Daddy Artists, die aber heute kaum noch jemand kennt. 2005 ging er dann zu DEAG Concerts. Als Cent-Sammler betätigt sich der umtriebige Mann nun seit kurzem, nachdem er auf einem Handelskongress in Berlin seine Idee vorstellte.
Wer den Cent nicht ehrt…, möchte man sagen, wenn man seine Rechnung hört. Die Händler sammeln die Cent-Beträge und führen sie an „Deutschland rundet auf“ ab. „Wenn nur jeder Zehnte der 50 Millionen Kunden, die jeden Tag im deutschen Einzelhandel einkaufen, mitmacht, kommen 90 Millionen Euro im Jahr zusammen”, erklärt Vater. Das Geld soll zu 100 Prozent in soziale Einrichtungen, in Bildung und Umwelt fließen. Die Verwaltungskosten bezahlen die beteiligten Unternehmen über eine umsatzabhängige Gebühr. Die Händler müssen zudem in die technische Einrichtung der Kassensysteme investieren, um eine saubere Abrechnung zu gewährleisten.
Das zumindest funktioniert, wie wir uns selbst überzeugen konnten. Alles, was die Kunden tun müssen, um spenden zu können, ist an der Kasse der 12 000 teilnehmenden Filialen zu sagen: „Aufrunden bitte!“. Damit wird die auf die nächsten zehn Cent gerundete Differenz auf dem Kassenzettel ausgewiesen und gelangt, so zumindest die Organisatoren, bis auf den letzten Cent in soziale Projekte in Deutschland.
Als unabhängiger Wirtschaftsprüfer sorgt Deloitte für die ordnungsgemäße Verwendung der Mittel. Gründer und Geschäftsführer Christian Vater hat sich für die Umsetzung des Projekts Wirtschaftsprüfer und IT-Anbieter ins Boot geholt. Ob sein Geschäftsführergehalt von den beteiligten Handelsunternehmen bezahlt wird, darüber erhielt aspekt keine Auskunft.
Im Stiftungskuratorium sitzen Persönlichkeiten wie Fritz Pleitgen, ehemaliger Vorsitzender der ARD und Henkel-Aufsichtsratschefin Dr. Simone Bagel-Trah. Für die Auswahl der zu unterstützenden Spendenprojekte war ein Expertengremium zuständig. Dieses bestand aus der Journalistin Inge Kloepfer, bekannt auch als Autorin der Biographie der Springer-Witwe Friedel Springer, Dr. Wolfgang-Meyer-Hesemann, Staatssekretär in den Bildungsministerien von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein von 1998 bis 2009, Prof. Dr. Dr. Helmut Schneider von der Steinbeis-Hochschule Berlin, einer Privat-Universität, deren Träger die Steinbeis-Stiftung ist, Prof. Dr. Sebastian Braun von der Humboldt-Universität zu Berlin, Mitglied im Bundesverband Deutscher Stiftungen, dem Dachverband der Stiftungen in Deutschland sowie Prof. Dr. Roland Roth von der Hochschule Magdeburg-Stendal. Roland Roth war Professor für Politikwissenschaft am Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen. Wir versuchten tagelang Professor Roth, der als Ruheständler in Berlin lebt, zu erreichen. Allerdings umsonst.
Dieses Gremium verantwortet die Auswahl der Projekte. Nach welchen Kriterien diese ausgesucht und zusammengestellt werden, bleibt aber offenbar das Geheimnis des erlauchten Kreises. Immerhin: Die Projekte, die zur Verfügung standen, mussten einen dreistufigen Auswahlprozess durchlaufen, der von den Stiftungsexperten von Active Philantrophy entwickelt wurde. Mittels Empfehlungen und aktiven Vorortbesuchen wurden über 100 Projekte identifiziert und mithilfe eines Fragebogens nach festen Förderkriterien geprüft. Daraus ergaben sich 19 in Frage kommende Spendenprojekte. Die „Aktiven Philantropen“ (Menschenfreunde) sehen sich selbst als eine Art Plattform zur Stiftungsberatung mit dem Ziel, dass Begüterte über Stiftungen Gutes für die Allgemeinheit tun. Im vorliegenden „Deutschland-rundet-auf“ geht es zwar nicht um Reiche, sondern um die an den Kassen, die normalerweise mit jedem Cent rechnen müssen, aber das soziale Anliegen bleibt erhalten.
Im zweiten Schritt wurden acht Organisationen durch das Expertengremium ausgewählt und bei Phineo in eine unabhängige Prüfung gegeben. Phineo analysiert gemeinnützige Organisationen hinsichtlich ihrer Qualität und Leistungsfähigkeit und prüft das Wirkungspotenzial der Spendenprojekte. Was nicht gesagt wird, ist die Tatsache, dass Phineo sehr eng mit der deutschen Finanzwirtschaft verbandelt ist. Der wichtigste Anteilseigner ist die Deutsche Börse.
In der letzten Phase beschließt das Kuratorium die endgültigen Spendenprojekte, die Förderreihenfolge und die Höhe der Förderung. Nach der satzungsgemäßen Kontrolle wurden vier Organisationen ermittelt. Das erste Projekt, dessen Förderung mit „Deutschland rundet auf“ begonnen hat, ist die „Eltern-AG“.
Diese Organisation vertritt ein Präventionsprogramm und dient der Steigerung der elterlichen Erziehungskompetenz. Ausgewählt wurde dieses Projekt, da die Experten der Meinung waren, es verfüge über einen sehr guten Zugang zu den Eltern und über eine sehr hohe Akzeptanz in der nur schwer erreichbaren Zielgruppe. „Klasse2000“ bekommt als nächstes die Förderung durch Spenden. Es ist das bundesweit größte Programm zur Gesundheitsförderung, Sucht- und Gewaltvorbeugung in der Grundschule und unterstützt Kinder frühzeitig und nachhaltig von der ersten bis zur vierten Klasse. Die Experten erkannten das klare, einfache und nachweislich wirkungsvolle Konzept und wählten das Projekt für „Deutschland rundet auf“.
Eine weitere Organisation, die sich über die Spenden freuen kann, ist BigBrothersBigSistersDeutschland (BBBSD). Das ist ein Mentoring-Programm für Mädchen und Jungen, in dem ehrenamtlichen Mentoren den Jugendlichen ihre Zeit und Aufmerksamkeit schenken und Anregungen für Bildung und Ausbildungen geben. Der Grund für die Wahl liegt auf der Hand: Es erfüllt hohe Qualitätsstandards und ermöglicht benachteiligten Kindern eine Perspektive. Das Schlusslicht der Spendenaktion bildet das präventive Frühförderprogramm „Hippy“ und richtet sich vor allem an Einwandererfamilien, deren Kindern der Einstieg in die Schule erleichtert werden soll. Das Experten-Team war der Meinung, dass dieses Projekt einer schwer zugänglichen Zielgruppe die Möglichkeit bietet, die deutsche Sprache zu erlernen. Mit den Spenden von „Deutschland rundet auf“ wird die Verbreitung der einzelnen Organisationen in ganz Deutschland erzielt.
Das Anliegen der bundesweiten Aufrundungsaktion mag in der Tat hehren Zielen dienen. Die Art und Weise der Kommunikation allerdings, lässt sehr zu wünschen übrig. In der bundesweiten Fernsehwerbung wird überhaupt nicht erläutert, worum es eigentlich geht. Die Prospekte, die es in den beteiligten Unternehmen gibt, informieren zwar sachgerecht, aber kaum über Hintergründe und Zusammenhänge. Es bleibt bei aller Sachlichkeit ein fader Beigeschmack, dass hier mit der Bequemlichkeit von Millionen Kunden Riesensummen gesammelt werden. Die mögen zwar einem guten Zweck dienen, allein davon weiß der Einzelkunde kaum etwas. Wer bewusst für einen guten Zweck gibt, tut das mit einer anderen Motivation, als einfach nur weniger der lästigen kleinen Kupferstücke im Portemonnaie herumtragen zu müssen. Das müsste eigentlich auch im Interesse der beteiligten Handelsunternehmen sein, denn mit dem Etikett, Gutes für die Umwelt, den Regenwald oder Kinder zu tun, versucht der Handel schon seit geraumer Zeit Kunden zu binden. Die Akzeptanz der Kunden wird entscheiden, ob „Deutschland-rundet-auf“ sich entwickelt, oder aber demnächst wieder abgewickelt wird.