Potemkins Dörfer sind immer noch hilfreich

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Unweit der Ecke, an der sich Newskij-Prospekt und Fontanka treffen, bummle ich auf den Ostrowskij-Platz zu. Die Metrofahrt vom Hotel in die Innenstadt liegt hinter mir, ich bin froh dem Reisestress entkommen zu sein. Und dann sehe ich es schon: Das Katharinen-Denkmal.

Die Größe und Schönheit des 1873 enthüllten Monuments dieser umstrittenen Regentin, der Zarin Katharina II., beeindruckt mich sehr. Sie trägt einen Hermelinmantel und selbst am Sockel sind die dargestellten Persönlichkeiten ihrer Zeit noch überlebensgroß.
„Lustweib auf dem Zarenthron“, „böse Mörderin“, „Superregentin“ und geniale Kriegsführung werden ihr nachgesagt. Unter ihrer Regentschaft blühten Kunst und Wissenschaft auf, ebenso der Adel, und die leibeigenen Bauern litten.
Die Sonne scheint und die Parkbänke ringsherum sind gut frequentiert. Also stehe und schaue ich.


Wie eine Eingebung versetzen mich meine Gedanken zurück nach Deutschland, steht das Dornburger Schloss vor meinem inneren Auge. Staunend hielt ich damals vor dem eingezäunten Gebäude in dem kleinen Ort Dornburg am Elberadweg in Sachsen-Anhalt inne. Nur von fern hörte ich die „Reiseführererläuterungen“ eines Freundes, so sehr nahm mich die bröckelnde, verwucherte Schönheit der Anlage gefangen.
„Die Prinzessin von Anhalt-Zerbst-Dornburg hat hier gelebt, ehe sie nach Russland heiratete.“ Ich hörte die Worte wie durch Efeudickicht und versank in einer Märchenwelt: Hohe Türen, Gold, glitzernde Lüster, glänzende Holzböden und darauf rauschen schwere Rockfalten. Das „Wir müssen los?“ riss mich aus meinem Traum, und ich bemerkte erst jetzt, dass die Fassade große Schäden hat. Unser eigentliches Ziel war damals die kleine Schlosskirche, die restauriert wurde. Als ich nach der Besichtigung im Auto saß, ahnte ich nicht, dass ein kleines Steinchen ins Rollen gebracht war; Historie, die mich fortan gefangen nahm.
„Sehr gern weilte ich in einem ländlichen Schloß meines Vaters in Anhalt. Es hieß Dornburg und lag nicht nur schön, sondern war auch innen und außen so hübsch wie möglich hergerichtet.“ So schrieb Sophie Frederike Auguste von Anhalt Zerbst-Dornburg über das Barockschloss in Dornburg, welches 1750 abbrannte; zwei Jahre später begann aber bereits der Neubau durch den Baumeister Friedrich Joachim Stengel. Die 1729 geborenen Tochter von Christian August von Anhalt Zerbst-Dornburg und seiner Frau Johanna Elisabeth wurde nach ihrem Übertritt zum russisch-orthodoxen Glauben und der Zarenthronbesteigung 1762 bekannt als Katharina II, Katharina die Große. Die Wurzeln der großen Regentin liegen in Sachsen-Anhalt, und nur das Museum in Zerbst zeigt eine Sammlung mit Erinnerungen an die große Frau, die dem kleinen deutschen Fürstentum entstammt.
Ja dort hat es begonnen, und nun stehe ich hier in der Zarenstadt, der ehemaligen Hauptstadt Russlands. Nach zwei Stunden Flug liegt vor mir liegt eine Woche auf den Spuren von Katharina II., die von hier aus 34 Jahre über das riesige Reich herrschte und deren Geschichte so viele Facetten besitzt. Vom Hotelzimmer im 17. Stock kann ich ihre Stadt überblicken. Dort hinten, mit der Peter-Paul-Festung, hat die Geschichte der Metropole ihren Anfang genommen. Peter der Erste ließ sie erbauen. Auf dem Gelände der Festung in der Peter-Paul-Kathedrale, deren goldene Spitze im Sonnenlicht glänzt, liegen die sterblichen Überreste von Katharina der Großen, wie auch die aller anderen Zaren.
In den Tagen danach folgen Besichtigungen besagter Festung, Isaaks- und Blutskathedrale, Peterhof, Newskij Prospekt, Puschkin- und Dostojewskimuseum und natürlich die Eremitage. Am Eingang geht es wie am Flughafen zu. Es staut sich, weil „Gürtel raus, Schuhe aus, Jacke und Tasche in den Korb aufs Förderband“ und dann der Gang durch das Detektor-Tor, alles unter Beobachtung von drei Wachmännern. Mein kleines Taschenmesser ist in der Hosentasche, fällt mit just in diesem Augenblick ein. Aber es ertönt kein Signal. Ein Blick zurück zeigt, dass der Stecker der riesigen Anlage auf dem Fußboden liegt. Die von Fürst Potemkin errichteten Pappdörfer, die Katharina Wohlstand vortäuschen sollten, lassen grüßen.
Der große Unterschied zum Louvre oder dem Moma besteht darin, dass in der Eremitage, die mittlerweile viel mehr Platz beansprucht als nur das berühmte Winterpalais, in wunderbaren Räumen ausgestellt wird. Verzierte Decken, Spiegel, glitzernde Lüster und die Treppen…
Die Haupttreppe ist wegen Bauarbeiten gesperrt und so ist die Orientierung anhand der Pläne in den verschiedenen Palästen sehr schwierig. Mit dem deutschen Faltplan wird es schon irgendwie gehen.
Der Pavillonsaal, Michelangelos „Hockender Knabe“ fast zum Anfassen, die wunderschöne „Taurische Venus“, der Picasso-Raum, Rembrandt, Rubens, da Vinci, die Skytenkunst… Stunden, die ich völlig isoliert genieße. Als krönender Abschluss sollten die französischen Impressionisten herhalten. „Hier müsste eigentlich die kleine Treppe nach oben sein. Hmm…hier nicht.“ Dann wieder Büros, nicht verschlossen. Mein „Baedeker“ kennt auch nur die Haupttreppe. Souvenir-Shop, „málenki“ Café. „Oh ja, ein Kaffee kommt jetzt gut“. Aber irgendwie muss es doch hier den Übergang in den ersten Stock geben?“ Der Matka in der Ecke sagt Monet nichts. Sie setzt sich einfach wieder auf ihr Stühlchen und schweigt. Also weiter. Sechs Stunden bin ich bereits hier. Eine davon auf der Suche, das dritte Mal am Ausgangspunkt „Eingang“. Ich gehe systematisch den im Plan empfohlenen Weg durch die Paläste und Ausstellungen, um zu Corot, Renoir und Gauguin zu kommen. Irgendwann und zwei Verzweiflungen weiter, setze ich mich auf eine Bank und sammle mich. Da schlurft ein junger Mann an mir vorbei: Gebückter Gang, hängender Kopf, strähnige Haare, in der herabhängenden Hand ein abgegriffener Faltplan der Eremitage, in der anderen Hand eine leere Wasserflasche. „Der ist bestimmt schon Tage hier unterwegs, schläft nachts in einem Sarkophag und sucht ebenfalls die französischen Impressionisten“, obsiegt mein Sarkasmus. Für mich ist die Begegnung Ansporn für einen letzten Versuch. Diesmal werde ich nicht nur fündig, sondern bin überwältigt, was dieses Museum alles beherbergt.
Mein Tipp: Lassen sie sich in der Eremitage einfach treiben. Alles geht einfach nicht. Besuchen sie unbedingt auch das Russische Museum; auch hier hängen geniale Schätze, wie die Ikonensammlung und die Gemälde moderne russischer Maler.
Zarskoje Selo, der Katharinenpalast, ist natürlich Pflicht für mich. Aber an diesem schönen Tag und beim Anblick dieses 300 Meter langen Palastes wird der Besuch zur Kür. Zarskoje Selo lag in der von den Deutschen belagerten Zone und wurde in dieser Zeit heruntergebrannt. Ludmilla, die Reiseleiterin, erklärt, dass die Russen viele der wertvollen Gemälde, Möbel und Geschirr vor der Wehrmacht in Sicherheit brachten und nach dem Abzug der Truppen wieder zurück trugen. Gold und Prunk bestimmen jetzt wieder den von Rastrelli erbauten Palast und seit 2003 ist das neue Bernsteinzimmer zusätzlicher Besuchermagnet. Noch sind die Arbeiten nicht abgeschlossen; zum Beispiel warten viele der äußeren Figuren noch auf die Vergoldung. Im weitläufigen Park kann ich mir die Zarin mit ihrem jeweiligen Favoriten beim Flanieren gut vorstellen.
Ludmillas Erläuterungen zu ihrer Heimatstadt sind sehr interessant; sie kann über den Wohnungsnotstand genau so referieren, wie über eine Mosaiksteinchenfarbe in der Isaakskathedrale. Aber manche Dinge erschließe ich mir lieber allein, zum Beispiel das Dostojewski-Museum und den Stadtteil am Sennaja Ploschtschad, in dem er und seine Figuren lebten.
Fußlahm setze ich mich nach meinem erfolgreichen Matrjoschkaaussuch-Handel und -kaufmarathon auf eine niedrige Mauer und sehe mir die großen Touristenschiffe an, die im Hafen auf die Nacht warten. Dann, so hat es Ludmilla erklärt, werden die Newabrücken für drei Stunden hochgeklappt und die Schiffe können ins Landesinnere fahren. Die Newa ist hier etwa einen Kilometer breit. Mein Mauersitzplatz befindet sich in Sankt Petersburg, nahe dem Reiterdenkmal Peters des Großen. Hier, das fällt einem sofort ein, begann die Oktoberrevolution. Panzerkreuzer Aurora hat als Gnadenbrot schon viele Ölfarbschichten bekommen, um für Touristenkameras attraktiv zu sein. Die Einwohner trotzten im Zweiten Weltkrieg 900 Tage lang deutscher Belagerung. Sankt Petersburg, dann Petrograd, dann Leningrad, und seit einer Volksabstimmung 1991 heißt die Fünf-Millionen-Metropole (mit knapper Mehrheit) wieder Sankt Petersburg. Die Geschichte der Stadt kann man nachlesen, aber eine Weltstadt im Aufbruch zu beobachten, ist eine ganz andere Sache, denn Sankt Petersburg hat zwar viel Sehenswertes zu bieten, aber man stößt überall noch auf das alte Mütterchen Russland. Es ist überall noch viel zu tun, aber gerade das macht den Reiz der Begegnung aus. Und wenn man dann noch die kyrillische Schrift lesen kann, ist man eindeutig im Vorteil.
Apropos Begegnung: An der Newa entlang führt auf beiden Seiten ein Fußweg. Um dem Stadtgetümmel zu entkommen, bietet sich von hier ein schöner Blick auf die Sehenswürdigkeiten, ohne das Gedränge der Touristenströme ertragen zu müssen. Eine frische Meeresbrise bekommt man in Sankt Petersburg kostenlos dazu. Allerdings geht man zum Teil an stark befahrenen Straßen entlang. So auch unterhalb der Eremitage. Kleine Treppchen zum Wasser hinunter laden zum Ufergang ein. Mal den Finger in den großen Fluss halten. „Ob der Stör in diesem Wasser leben kann? Irgendwo muss der Kaviar ja herkommen.“ Da kommt ein Mann zu mir hinunter, reißt beim Gehen eine Tüte mit Suppenpulver auf, füllt sie mit dem kalten Newawasser, trinkt das Gemisch, kaut ein wenig, grinst mir zu und geht wieder. So geht es auch.
Auffallend sind auch die Petersburger Frauen, die zum großen Teil auf etwa zehn-Zentimeter-Hacken-Pumps laufen, egal ob es regnet oder schneit. Dabei sind manche Bordsteinkanten bis zu 50 Zentimeter hoch. Die Stadt steht auf Eichenpfählen und die General-Höhennivellierung steht noch aus; Brücken, Straßenpflaster, Gehwege und Bordsteine sind eher etwas für dicksohlige, knöchelverstärkende Wanderschuhe. So sind die Touristen von den Einheimischen gut zu unterscheiden.